Lili Thal: Mimus

„Ein Monstrum, halb Mensch, halb Tier, stand vor ihm. Der schillernde Lurchleib wurde gekrönt von einem Eselskopf, auf dem das menschliche Gesicht wie eine Maske wirkte.“

Ich hatte immer schon eine gewisse Vorliebe für die Figur des mittelalterlichen Hofnarren, doch niemals zuvor ist mir ein Narr wie Mimus begegnet.

Lilli Thals Roman bietet alles, was zu einem opulenten Mittelalter-Schmöker gehört: eine finstere Burg, einen despotischen König und einen gefangenen Prinzen; spannend und mit Tempo erzählt die Autorin von Intrigen und Abenteuern, von Verrat, Mut und Freundschaft und zeichnet dabei ein detailgetreues Bild vom mittelalterlichen Leben in einer Burg.

Die eindrücklichste Gestalt ist der Hofnarr Mimus, dem der 12-jährige Königssohn Florin als Lehrling zugewiesen wird. Gefürchtet von den Hofleuten, hinterlistig und vor Bosheit sprühend, mit scharfem Verstand und unberechenbar, wird der Hofnarr selbst kaum besser als ein Tier gehalten und muss täglich um sein Überleben kämpfen. Und doch ist es dieser verachtete Außenseiter, selbst ein Opfer königlicher Willkür, der sich des jungen Prinzen annimmt und im entscheidenden Augenblick die rettende Lösung findet. Die Darstellung der komplexen Freundschaft zwischen dem harten und spröden Narren, der sich an den Namen seiner Kindheit nicht mehr erinnern kann oder möchte, und dem gedemütigten Prinzen ist äußerst faszinierend. Lilli Thal hat mit Mimus einen vielschichtigen Charakter geschaffen, an dem zu erkennen ist, dass die Fragen von Macht und Ohnmacht, Verrat und Loyalität nicht immer eindeutig zu klären sind. „Chapeau“, kann ich da nur sagen. Oder sollte ich zu Ehren von Mimus doch lieber die Narrenkappe schwenken?

Barbara Burkhardt


Cover

Lili Thal: Mimus

Hildesheim: Gerstenberg 2003, 445 S., vergriffen