Ottfried Preußler: Das kleine Gespenst

„Bis zum Ende der Geisterstunde tanzte es auf den Mauern der Burg umher. Es hüpfte im Mondschein von Zinne zu Zinne und freute sich. Es freute sich unbeschreiblich darüber, dass es nun wieder weiß war wie früher. Blütenweiß. Weißer als eine Wolke Schneestaub.“

Ist Ihnen das schon einmal passiert: Sie schlagen nach Jahrzehnten ein Kinderbuch wieder auf, haben nicht mehr den leisesten Schimmer, was den Handlungsverlauf betrifft, beginnen mit den ersten Sätzen – und es fühlt sich an, als hätten Sie sie gestern erst gehört? So vertraut sind sie, so verinnerlicht. Otfried Preußler hat meine Freude an Sprache maßgeblich mitgeprägt. Ich erinnere mich noch genau, wie begeistert ich als Kind von Formulierungen wie „Er flog, was die Flügel hergaben“ oder „Es fing den taumelnden Nachtfalter in der hohlen Hand“ war. Wie ich herrlich altmodische Wörter wie „feilbieten“ und „blankgeputzte Stiefel“ nachsprechen wollte. Es gefiel mir, den Rhythmus der Sätze dahinrollen zu lassen: „Es rumste und krachte den ganzen Tag und die halbe Nacht lang.“ Und Melodiös-Poetisches wie „weißer als eine Wolke Schneestaub“ waren besondere Leckerbissen.
Nun ist auch die Handlung wieder präsent: Das kleine Nachtgespenst, dessen innerer Rhythmusgeber unweigerlich mit der Rathausuhr des Städtchens Eulenberg verknüpft ist, und das deshalb nach einer Wartung des Zeitmessers versehentlich zum Taggespenst wird. Ein Wandel, der – obwohl ersehnt – mit vielen unangenehmen Begleiterscheinungen für alle Beteiligten verbunden ist.

Den Witz, der Preußlers Geschichte durchzieht, fängt Franz Josef Tripp mit seinen Zeichnungen ein. In der neuen Ausgabe aus dem Jahr 2013 wurden sie von Mathias Weber sehr bunt koloriert, was den fröhlichen Grundton der Geschichte unterstreicht, allerdings leider keine Rücksicht darauf nimmt, dass das kleine Gespenst bis zum Missgeschick mit der Rathausuhr im Glauben lebte – und das immerhin „seit uralten Zeiten“ –, „dass die Bäume schwarz seien und die Dächer grau“. Doch wenn die Kolorierung dabei hilft, dass Preußlers Geschichten und seine Sprache zu den Kindern finden, die heute im Vorlesealter sind, hat sie schon ihren Zweck erfüllt.

Isabella Stelzhammer


Cover

Ottfried Preußler: Das kleine Gespenst

Stuttgart: Thienemann 1966, 120 S., lieferbar in verschiedenen Ausgaben