
Andrea Karimé: King kommt noch
Seit der großen Migrationswelle 2015 hört und sieht man in den Medien ohne Unterbrechung von schrecklichen Schicksalen. Menschen, die ihre Heimat, ihre Familie verlassen müssen, Menschen, die diese Reise in ein vermeintlich besseres Leben nicht überleben, ... Viele Kinder- und JugendbuchkünstlerInnen haben sich im Zuge dessen mit dem Thema Flucht auseinandergesetzt. Unter all den erschienen Büchern, hat mich dieses ganz besonders berührt.
„Ich kann nicht mehr lesen.“ – Was für eine beängstigende Feststellung, die der namenlose Junge in „King kommt noch“ macht. Nach der langen Flucht kommt die vierköpfige Familie endlich an. Das neue Land gibt nicht nur viele Rätsel auf, sondern hat auch innerhalb der Familie etwas ausgelöst. Die Eltern haben keine Antworten, die Buchstaben ergeben keine Geschichten mehr. Vertraut sind lediglich Geräusche wie das Klingeln von Mamas Ohrringen, das sowohl beruhigend als auch warnend klingen kann. Oder das Geräusch von Sirenen, das eine tief sitzende Angst auslöst. Gezeigt wird hier kein Einzelschicksal – der Ort, die Zeit, die Figuren bleiben unbestimmt, sind Platzhalter für zahlreiche traumatische Fluchterlebnisse. Und doch bietet die Geschichte so viel Identifikationsmöglichkeit, Tiefe und Gefühl. Die greifbaren Figuren bleiben namenlos, einzig der Hund King, der zurückgelassen werden musste, trägt einen Namen. Er steht für die Hoffnungen und Wünsche des Jungen, für seine Sehnsucht und für die Angst um die Zurückgelassenen. Voller Vorfreude und doch ängstlich erwartet der Junge die Ankunft seines Hundes. Der noch eine weite gefährliche Reise vor sich. Via Windtelefon lotst er ihn über die Berge bis hin zum Meer und warnt ihn vor vorbeifliegenden Raketen, bewaffneten Männern und der gefährlichen Bootsfahrt. Die vom Fließtext abgesetzten Textstellen – die Worte, die der Junge an seinen Hund richtet – beschreiben die verdrängten Erinnerungen an die traumatische Flucht. Während er ungeduldig wartet, löst er die Rätsel, die ihm sein neues Zuhause aufgibt und fühlt sich zunehmend wohler – er lernt, die Geschichten neu zu lesen, indem er den Bildern Leben einhaucht. Wie Jens Rassmus, der seine narrativen Zeichnungen in den Weißraum setzt, wodurch sich die Grenzen zwischen BetrachterIn und Betrachtetem manchmal aufzulösen scheinen. Durch die gedämpften Farbtöne und das Spiel mit Licht und Schatten, das noch mehr Tiefe schafft, spiegelt der Illustrator die Emotionen des Buches – Glück, Hoffnung Trauer, Angst – glaubwürdig wider.

Andrea Karimé: King kommt noch
Wuppertal: Peter Hammer Verlag 2017, 48 S., ab 6 Jahren, lieferbar