Jeff Zentner: Zusammen sind wir Helden

Sein Leben läuft nach einem schrecklichen vorherbestimmten Plan ab, davon ist Dillard Wayne Early Junior überzeugt.

Aus dem Englischen von Ingo Herzke
Hamburg: Carlsen 2018


Sein Leben läuft nach einem schrecklichen vorherbestimmten Plan ab, davon ist Dillard Wayne Early Junior überzeugt. Ist er doch Enkel eines Großvaters, der sich als „Schlangenkönig“ in geistiger Verwirrung umgebracht hat, und Sohn eines fanatischen Pastors, der wegen Besitzes von Kinderpornografie im Gefängnis sitzt. An der Last seines Namens trägt der gebrandmarkte 17jährige schwer. Dill meint, keine Wahl zu haben. Er muss arbeiten, seine schwer verschuldete Mutter unterstützen, er kann Forrestville nicht verlassen, so wie Lydia, privilegierte Tochter aus gutem Hause, die zum Studium nach New York gehen wird. Er wird, wie er sehr wohl spürt, sein Schicksal aber auch nicht akzeptieren können so wie Travis, der dritte im Freundschaftsbund, der sein wahres Leben in der imaginierten Welt eines mittelalterlichen Fantasyromans führt.

Die engstirnige Atmosphäre einer Kleinstadt im amerikanischen Süden, mitten im tief religiösen Bible Belt, ist nicht nur bedrückend, sie macht Angst. Anders zu sein als andere ist hier nichts, was als positives Alleinstellungsmerkmal gelten könnte. Wenn man wie Dill einen als Kinderschänder verurteilten Vater hat, der seine Kirchengemeinde dazu brachte, Klapperschlangen in die Hand zu nehmen, oder wenn man wie Travis 115 kg bei fast zwei Metern auf die Waage bringt und gerne mit einem großen Eichenstab herumläuft, macht man sich nicht viele Freunde. Aber auch ein Mädchen wie Lydia, die ihre Intellektualität mit auffälligen schwarzen Brillen und zerwühlten graublau gefärbten Haaren überdeutlich vor sich herträgt, hat nur mit hoher rhetorischer Brillanz eine Chance, an der High School zu überleben. Dill sucht mit seiner Gitarre Trost in der Musik, Travis in Büchern und Fanforen, Lydia schreibt ihre Identität als erfolgreiche Modebloggerin in einer geschönten Version um. Und nicht zuletzt finden sie Trost aneinander, auch wenn sie nur wenig preisgeben von ihren Gefühlen und von den Dingen, die sich zu Hause hinter verschlossenen Türen abspielen.

Aus wechselnder Perspektive der drei Hauptfiguren erzählt Jeff Zentner in seinem Debutroman „Zusammen sind wir Helden“, im Original „The Serpent King“, von jungen Menschen mit denkbar unterschiedlichen Startpositionen ins Leben. Lydia kennt weder finanzielle Sorgen noch Lieblosigkeit, wird von verständnisvoll-weltoffenen Eltern unterstützt, ihre Welt war und ist heil. Ganz im Gegensatz zu Dill und Travis, die in ihren Familien schwerster psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind. Es berührt, wie sehr diese Söhne ihre abgrundtief bösen Väter verabscheuen, ohne sich gegen sie wehren zu können, und es berührt und erschreckt, wie sehr sie ihre Mütter lieben, selbst wenn diese sie nicht beschützen können oder in ihrer religiösen Verbohrtheit jedes Maß von Menschlichkeit verloren haben.
Dills Mutter versucht nicht nur, ihm das Studium zu verbieten und ihm permanent Schuldgefühle einzuimpfen, sie bürdet ihm sogar die Verantwortung für die Inhaftierung des perversen Vaters auf.
Der Kraftakt, den es erfordert, sich aus diesem emotionalen Würgegriff befreien, ist zu groß, als dass er ihn alleine bewältigen könnte. Doch – er ist nicht alleine. Dill, Lydia und Travis, sie haben einander.
„Wir müssen von jetzt an aufeinander aufpassen. Wir müssen füreinander Familie sein, weil unsere eigenen so verkorkst sind. Wir müssen uns ein besseres Leben schaffen. Wir müssen endlich anfangen, die Dinge zu tun, vor denen wir uns fürchten.“ So macht Travis sich selbst und Dill Mut, nachdem er sich endlich, erstmals, dem Vater entgegen gestellt hat.

Cover
Der sanftmütige Riese wird es nicht mehr erleben, das neue, bessere Leben, Travis wird bei einem Raubüberfall erschossen, Doch er hätte sich von Herzen gefreut, wenn er gesehen hätte, wie seine beiden Freunde den Neustart schaffen. Wie sie sogar als Liebende zueinander finden, nachdem Dill Lydia endlich seine wahren Gefühle eingesteht. Wie sie am Abschlussball den anderen gegenüber treten, wie unverwundbar, im Bewusstsein, dass die, von denen sie jahrelang gequält wurden, ihnen nun nichts mehr anhaben können. Wenn sie zwar in anderen Städten studieren und also nicht gemeinsam leben, aber immer wissen werden, dass sie zusammen Helden sind.

In diesem von extremen Emotionen erzählenden und, wenn man sich darauf einlässt, auch stark emotionalisierenden Roman geht es um Liebe und um Freundschaft, und vor allem geht es um die entscheidende Bedeutung der Herkunftsfamilie. In der junge Menschen, die warmherzig sind und liebevoll und klug, ihren Mut erst finden müssen, die Zeit brauchen, um zu erkennen, worauf es wirklich ankommt. Oder um Hilfe zu suchen und zu finden und damit die Kraft, aus dem vermeintlich vorherbestimmten Leben auszubrechen. Es geht um Menschen, die einen mutiger machen, die einem zeigen, dass man eine Wahl hat, gerade dann, wenn man meint, dass alles schon entschieden ist.
„Werde der, der du sein sollst.“ schreibt der berühmte Fantasyautor Travis als Widmung in sein Buch. Und damit Jeff Zentner seinen Leserinnen und Lesern in das seine.

Karin Haller