Marlene Röder: Zebraland

„Hätte ich damals gewusst, was auf mich zukommt, wäre ich zu Hause geblieben. Ich hätte mir die Bettdecke über den Kopf gezogen und mit angehaltenem Atem gewartet …"

Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 2009


„Hätte ich damals gewusst, was auf mich zukommt, wäre ich zu Hause geblieben. Ich hätte mir die Bettdecke über den Kopf gezogen und mit angehaltenem Atem gewartet…“ […] „Darauf, dass dieser Kipppunkt in meinem Leben harmlos verstreicht. Nichts, nichts auf der Welt hätte mich dazu gebracht, auf dieses Festival zu fahren. Aber damals wusste ich noch nicht, wie die Normalität von einer Sekunde auf die andere zu etwas Ungeheuerlichem werden kann.“

Aber, so erzählt die junge deutsche Autorin Marlene Röder in ihrem zweiten Roman „Zebraland“, Ziggy ist nicht zu Hause geblieben. Es scheint sein Schicksal zu sein, dass er im Auto von Judith, Philipp und dessen Freundin Anouk landet, die er nur flüchtig kennt, mit denen er keine Gemeinsamkeiten hat. Bis dieser eine Tag, diese eine Sekunde, die Normalität kippen lässt und die vier Jugendlichen in einer unfreiwilligen Gemeinschaft aneinander bindet: Auf der Rückfahrt vom Festival überfährt ihr Wagen ein Mädchen, Yasmin, genannt Zebra. Im Glauben, sie sei tot, lassen sie die Mitschülerin am Straßenrand liegen – sie stirbt später an ihren Verletzungen. Doch das erfahren die vier erst aus den Nachrichten, denn sie fliehen, vertuschen den Unfall, schweigen. Judith, die einzige, die sich der Polizei stellen will, wird überstimmt. Zu sehr fürchten die anderen die Konsequenzen ihrer Tat. Doch es gibt einen Mitwisser, der sie mit anonymen Botschaften erpresst. Sie sollen Buße tun: „Ihr habt getötet. Ihr habt gelogen. Ihr opfert bereitwillig alles, was eurem mickrigen, kleinen Leben gefährlich werden könnte. Doch wie weit seid ihr bereit zu gehen?“ Unter dem Namen Mose fordert das personifizierte Gewissen der Schuldgemeinschaft Opfer ab, die sie an ihre Grenzen führen. Und erst ganz am Schluss stellt sich heraus, wer sich hinter „Mose“ verbirgt …

Marlene Röder erzählt den Stoff um Schuld und Sühne von zwei konträren Positionen aus: Ziggys Erinnerungen, der nach zwei Jahren sein Schweigen nicht mehr erträgt und seinem älteren Cousin alles beichtet, werden von Passagen aus der Sicht Judiths unterbrochen – die Perspektive wechselt wie die Erzählzeiten. Ziggys Blick auf die Ereignisse ist retrospektiv, mit Kommentaren versehen, Judith erzählt ungefiltert im Jetzt des Sommers, in dem alles geschah.

Geschickt nützt die Autorin die verschiedenen Zeitebenen, um die Handlung sehr schnell voran zu treiben, Spannung aufzubauen, und ebenso klug nützt sie die unterschiedlichen Erzählperspektiven, um dem Geschehen Dichte und Geschwindigkeit zu verleihen.

In der gegeneinander geschalteten Positionierung der beiden Erzählerfiguren wird auch die Gegensätzlichkeit des möglichen Umgangs mit ihrer Schuld deutlich: Ziggy, ein introvertierter Einzelgänger, will nicht vergessen, sondern sich erinnern, trägt das Tagebuch der Toten mit sich herum und sucht in der ständigen Konfrontation mit dem Geschehenen im Zoo vor dem Zebragehege seine Zuflucht.

Cover
Judith, ein leistungsorientiert-verbissener Kontrollfreak, scheint mehr unter ihrer unglücklich-unerwiderten Liebe zu Philipp und ihrer Eifersucht auf Anouk zu leiden als unter ihrer Mitschuld am Tod eines Menschen. Sie will sich nicht stellen, weil sie sich schuldig oder moralisch dazu verpflichtet fühlt, sondern weil es eiserne Regeln gibt, die es ohne Rücksicht auf die eigene Person zu befolgen gilt. In ihren Augen ist sie Opfer der Situation, nicht Täter – schließlich saß Anouk hinter dem Steuer des Wagens. Ihr Schweigen hat nicht in Feigheit oder Egozentrismus seinen Ursprung, sondern im verzweifelten Wunsch, von Philipp wiedergeliebt zu werden.

So liest sich „Zebraland“ als spannender Krimi wie als psychologische Erzählung um gruppendynamische Prozesse in einer Gemeinschaft von Teenagern, in denen Machtkämpfe, Eifersucht, individuelle Stärken und Schwächen deutlich werden. Wie sich die einzelnen Figuren und ihre Beziehung zueinander verändern, führt den Leser ebenso durch die Erzählung wie das dramatische Geschehen selbst.

Der Plot erinnert deutlich an den US-amerikanischen Horrorfilm „„Ich weiß was du letzten Sommer getan hast“, der 1997 in die Kinos kam, doch es bleibt bei der Parallelität einzelner Handlungsmotive – die Umsetzung des Stoffes ist denkbar verschieden. Ein Jugendroman ist kein Slasher – Movie, setzt seinen Focus nicht auf die Geschehnisse im Außen, sondern auf das Innenleben seiner Figuren. Da braucht es viel weniger Blut, viel weniger Tote – hochspannend ist der Text allemal. Schließlich will man nicht nur wissen, ob die vier ihre Schuld sühnen müssen, sondern vor allem auch, wer der Verfasser der mahnend – sadistischen Botschaften ist. Denn eines ist, wenn schon nicht den Protagonisten, so doch dem Leser bald klar: Es muss einer oder eine aus den eigenen Reihen sein …

Karin Haller