Emil Ostrovski: Wo ein bisschen Zeit ist ...

In nicht wenigen jugendliterarischen Texten ist es der Tod eines geliebten Menschen, der die Handlung in Gang bringt. In Emil Ostrovskis Debutroman „Wo ein bisschen Zeit ist …“ ist es die Geburt seines Sohnes, die den achtzehnjährigen Jack in Bewegung setzt.

Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel
Frankfurt/M.: S. Fischer 2014


In nicht wenigen jugendliterarischen Texten ist es der Tod eines geliebten Menschen, der die Handlung in Gang bringt. In Emil Ostrovskis Debutroman „Wo ein bisschen Zeit ist …“ ist es die Geburt seines Sohnes, die den achtzehnjährigen Jack in Bewegung setzt.

Als ihm seine Sommerliebe Jess eröffnet, dass sie schwanger ist, ist der Teenager, der gerade die High School abschließt, von der Situation hoffnungslos überfordert: Sie soll abtreiben. Jess wirft einen Stuhl nach ihm. Dann ist Funkstille – bis Jack wieder von ihr hört, als sie in den Wehen liegt. Im Krankenhaus erfährt er, dass sie ihren Sohn zur Adoption freigegeben hat. Worauf Jack aus einem Impuls heraus den Neugeborenen, den er für sich Sokrates nennt, entführt. Zunächst ohne Plan und Ziel; doch als ihn seine an Alzheimer erkrankte Großmutter anruft, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren, weiß der Junge, wohin die Reise gehen soll. Zu ihr, damit sie ihren Urenkel kennen lernt. Damit er sich von der Sterbenden verabschieden kann. So wie diese ganze Entführung vor allem den einen Sinn hat – Jack will sich von seinem Sohn verabschieden, bevor er ihn wieder hergeben muss. Denn er weiß, dass er ihn nicht behalten kann, er will nur ein bisschen Zeit mit ihm. „Und da wo ein bisschen Zeit ist, da ist alle Zeit der Welt“.

Und so beginnt auf der Flucht vor der Polizei ein dreitägiges Road-Movie in einem alten Pickup und sogar auf einem Segelboot, zuerst gemeinsam mit Jacks bestem Freund Tommy, dann zu dritt, als auch noch Sokrates ´ Mutter Jess zu ihnen stößt. Die Reise wird zu einer Zäsur, einer Erfahrung, die unwiederholbar ist. „So nah werden wir uns nie wieder sein. Das ist unsere Flucht. Unser geheimer Wandschrank, unsere Einladung nach Hogwarts, unser Angriff auf den Todesstern. Danach sind wir wieder in der wirklichen Welt, […].“

Auf ihrer abenteuerlichen Fahrt erleben sie absurde Situationen, begegnen skurrilen und dabei ausgesprochen liebenswerten Menschen, bis sie tatsächlich bei Jacks Großmutter ankommen, wo die Reise dann auch endet. Aber der Lesende weiß ja schon aus dem Prolog, in dem Jack zusammen mit seinem Sohn dessen Schulabschluss feiert, dass die beiden den Kontakt zueinander nicht verlieren werden.
Sokrates bleibt in Jacks Leben. Gibt ihm Sinn. Und das kann der orientierungslose junge Mann gut brauchen. Jack ist keiner, der im „Happy go lucky“-Modus den Augenblick genießt. Der Hobbyphilosoph ist ein tendenziell suizidgefährdeter Grübler, der sich nicht mit einfachen, schnellen Antworten zufrieden gibt, der mehr über den Sinn des Lebens, den Zusammenhalt des Universums und den freien Willen nachdenkt, als ihm gut tut.
Und so finden sich im Text lange Passagen über Fragen wie „Das Zimmer hat eine Decke, aber was ist, wenn wir draußen sind? Gibt es draußen auch eine Decke?“ Diese inneren Monologe des Ich-Erzählers sind als fiktive Dialoge gestaltet – Jack imaginiert sich seinen neugeborenen Sohn zu einem höchst philosophischen Gesprächspartner. Was immer wieder auch erzählerischen Anlass für witzige Wendungen bietet – und das ist die große Stärke dieses Buches: sein Witz.

Cover
Ostrovski nützt jede Gelegenheit für Situationskomik, pointenreiche Dialoge zwischen Jack und Tommy, der als witziger Stichwortgeber fungiert, für Absurditäten vieler Art. Etwa wenn Jack Sokrates in einer öffentlichen Toilette im Waschbecken ablegt:
„Jemand, der sich außerhalb meines Blickfelds befindet, sagt: „Oh, Scheiße. Ich glaub, ich bin … Scheiße. Nicht schon wieder. Sieht hier noch irgendjemand ein Baby im Waschbecken? Irgendwer?“

Mit derartigen Überzeichnungen markiert der erst dreiundzwanzigjährige Autor, der im übrigen Philosophie studiert hat, deutlich: Es geht ihm nicht darum, einen in der Realität 1:1 umsetzbaren Plot zu erfinden. Natürlich ist es nicht realistisch, dass drei Teenager mit einem Neugeborenen auf dem Rücksitz durch die Gegend fahren, sich auf einem Segelboot betrinken, von einem mit Flinten bewaffneten Ehepaar zum Übernachten eingeladen oder von einem reaktionsschnellen Obdachlosen vor der Polizei gerettet werden. Doch das ist nicht der Punkt. Jugendromane sind keine Handlungsanleitungen, sondern Geschichten.
„Wo ein bisschen Zeit ist …“ erzählt witzig und klug eine schöne Geschichte. Und einen Schnellsiedekurs in Philosophie bekommt man, wenn man sich darauf einlässt, obendrauf.

Karin Haller