Alison McGhee: Wie man eine Raumkapsel verlässt

Aus der Traurigkeit zurück ins Leben

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann
München: dtv Reihe Hanser 2021
208 S. | € 13,40



Beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre muss ein Raumflugkörper einer Temperatur von mehreren tausend Grad standhalten – der Hitzeschild, der ihn umgibt, ist überlebensnotwendig für die Menschen darin. Dieses Gefühl, sich abschotten zu müssen, um überleben zu können, hat auch Will in Alison McGhees neuem Jugendroman „Wie man eine Raumkapsel verlässt“. Er braucht Schutz vor seinen Gefühlen, seiner Trauer, seinen Selbstvorwürfen. Weil er Entsetzliches nicht verhindern konnte, nicht den Selbstmord seines Vaters vor drei Jahren, nicht die Vergewaltigung seiner Freundin. Weil er nicht da war, weil er keine Ahnung hatte. Playa auf der Party zurückließ. „Nee“ zu seinem Vater sagte, als dieser ihm von seinem selbstgebackenen Maisbrot anbot, nicht wissend, dass es seine letzten Worte zu ihm sein würden.

Wenn es um die Gefühle des Ich-Erzählers geht, muss man vor allem zwischen den Zeilen lesen. Dieser Junge ist keiner, der Innenschau betreibt, sein Verhalten analysiert. Er beschreibt nur. Wie er immer, wenn seine Mutter im Krankenhaus Nachtschicht hat, versucht, das Maisbrot seines Vaters originalgetreu nachzubacken – und regelmäßig daran scheitert. Wie er am Morgen, als sie seinen Dad fanden, mit dem Laufen angefangen hat. „Jetzt bin ich sechzehn und laufe noch immer.“ Es ist kein sportliches Joggen, sondern Gehen, in Shorts und Flipflops.


mcghee raumkapsel

Der Weg zu seiner Schicht im Dollar Only Shop, wo er neben der Schule arbeitet, führt ihn vorbei an Vergessenen und Alleingelassenen. An dem Obdachlosen, den er „Superman“ getauft hat, an dem wahnsinnigen Hund an der Kette, dem kleinen Jungen in der State Street, der jeden Tag darauf wartet, dass fünf Schmetterlinge um zwanzig nach fünf an der Garagenwand landen. Will nimmt sie alle wahr, mehr noch, er geht auf sie ein, macht ihnen offen oder heimlich Geschenke. Auch seinem vereinsamten, schrulligen Boss im One Dollar Shop begegnet Will mit feinfühliger Freundlichkeit und Empathie – instinktiv spürt er, was andere gerade brauchen. Doch so aufmerksam er andere sieht, so groß ist der blinde Fleck, wenn es um seine eigenen Gefühle geht. Lange Zeit sind Verdrängung und Vermeidung Wills Bewältigungsstrategien.
Wenn er durch L.A. läuft, darf sein Weg nicht zu Playas Haus führen, nicht zum Voodoo-Laden mit den hundert Segenssprüchen in einer Kiste, den er mit seinem Vater besucht hat, nicht zur Brücke über die Fourth Street, von der sein Dad gesprungen ist.

Die Segenssprüche aus dem Laden von „Dear Mrs. Lin“ geben dem Buch seine äußere Form: Hundert Kapitel mit jeweils rund hundert Wörtern erzählen die Geschichte als episodische Sammlung von Gedanken, Assoziationen und Erinnerungen; der Text ist auf der Doppelseite jeweils rechts gesetzt, links wird in chinesisch kalligrafierten Schriftzeichen von eins bis hundert hinaufgezählt.
Die reduzierte, fokussierte Struktur erfordert äußerste Genauigkeit im Erzählen – nicht nur im englischen Original, das übrigens den Titel „What I leave behind“ trägt, sondern auch in der bruchlos-runden Übersetzung von Birgitt Kollmann. Ihrem ausgeprägten Sprachgefühl haben wir seit Jahrzehnten die deutsche Lektüre von ganz besonderen jugendliterarischen Texten zu verdanken – Joyce Carol Oates, Sally Nichols, Louis Sachar beispielsweise.
Wenn jedes Kapitel nur rund hundert Wörter umfassen soll, und der ganze Text genau hundert Kapitel, muss jedes Wort exakt gesetzt sein, jede Wendung stimmen. In der Punktgenauigkeit, mit der Emotionen, Situationen, Beziehungen beobachtet und vermittelt werden, liegt die Stärke des Buches:
„Haben Sie die geschält, Major Tom?“ frage ich, denn ich sehe, er braucht dringend jemanden, der sein Werk bewundert. „Hammer, echt.“ Hammer sage ich deshalb, weil ich weiß, so was gefällt ihm, so ein Ausdruck. „Hab ich“ sagt er, und dabei rollt er sich auf die Zehenspitzen vor Stolz.

Nicht nur die Zahl hundert oder das Motiv der Segenssprüche geben dem Buch seinen Rahmen – auch Musik, für Wills Vater die Zuflucht der Einsamen, übernimmt diese Funktion: „Space Oddity“ – Wills Mutter liebt den Song, Will selbst trägt das Bowie T-Shirt seines Vaters – führt in Zitaten durch den Roman. Als Will schließlich einen Weg findet, seine selbst geschaffene Raumkapsel zu verlassen – „Irgendwann muss man raus, in die Luft ohne Dach oder Wände“— tut er das nicht wie Major Tom im Weltall, sondern, zusammen mit Playa, mit der „Erde unter ihren Füßen, die Sterne über ihren Köpfen.“

Karin Haller