Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band

Wie im Paradies fühlt es sich für Alma an, auf der Insel in der Nähe von Buenos Aires, auf der das Wochenend-Haus ihrer Eltern steht, umgeben von Wasser, Kumquatbäumen und Bambusdickicht. Der Fluss ist ihr Zuhause, der Ort, wo sie hingehört.

Aus dem argentinischen Spanisch von Ilse Layer
Frankfurt/M.: Fischer Verlag 2013


Wie im Paradies fühlt es sich für Alma an, auf der Insel in der Nähe von Buenos Aires, auf der das Wochenend-Haus ihrer Eltern steht, umgeben von Wasser, Kumquatbäumen und Bambusdickicht. Der Fluss ist ihr Zuhause, der Ort, wo sie hingehört. Dort trifft sie auch Carmen und deren Bruder Marito, ihre Lebensmenschen. Die energische, furchtlose Carmen wird ihre beste Freundin, der stille, nachdenkliche Marito ihre große Liebe. Doch es ist nicht nur der Flussarm, der die Häuser der Kinder voneinander trennt. Alma wächst im geschützten Kokon ihrer wohlhabenden Familie auf, besucht eine streng katholische Privatschule in der Hauptstadt, hat keinerlei Berührungspunkte zur weniger privilegierten Bevölkerung. Carmen und Marito, die im windschiefen Holzhaus ihrer Großmutter am Fluss leben, haben nicht einmal Strom, ihre Onkel sind Gelegenheitsarbeiter, die die Familie irgendwie durchbringen, Carmen verdient sich mit Putzen etwas dazu.

Solange sie Kinder sind, ist diese Kluft für sie bedeutungslos. An den Wochenenden und in den Ferien sind sie unzertrennlich, fahren auf dem Fluss, bauen Baumhäuser, spielen Schere, Stein, Papier. So heißt Inés Garlands jugendliterarischer Erstling im spanischen Original auch: Piedra, papel o tijera“. In der deutschen – überaus gelungenen Übersetzung von Ilse Layer – „Wie ein unsichtbares Band“. Doch je älter die drei Freunde werden, desto deutlicher spürbar wird der Klassenunterschied, der die Bevölkerung Argentiniens Mitte der Siebziger Jahre prägt. So kommt es auch, dass Alma vor ihren Schulkolleginnen, allesamt Mädchen aus gutem Haus wie sie selbst, nicht zu Carmen steht und sich für sie schämt. Ein Verrat, der zum unheilbaren Bruch der Freundschaft führt. Und auch Almas Liebe zu Marito hat keine Chance. Zwar finden die beiden zueinander und können trotz aller Widrigkeiten für eine kurze Zeit ihre Beziehung im Verborgenen leben, doch hier ist das Ende noch endgültiger. Marito, der sich wie seine Schwester den linken Guerillakämpfern angeschlossen hat, wird zu Tode gefoltert.

Inés Garland erzählt aus der Perspektive ihrer zunächst kindlichen und später jugendlichen Ich-Erzählerin, retrospektiv und punktuell hinterlegt von den Reflexionen der erwachsenen Figur. Alma, die völlig unpolitisch aufwächst, weiß nichts vom Widerstandskampf ihrer Freunde, ihre grenzenlose Naivität erstreckt sich nicht nur auf persönliche Belange, sondern auch auf die gesellschaftlichen Strukturen ihres Landes. Wenn sie ihre Eltern sagen hört, es sei gut, dass endlich mal jemand für Ordnung sorgt, macht sie sich weiter keine Gedanken.

Von der Militärdiktatur, die seit dem März 1976 herrscht, in der Tausende ermordet werden und Zehntausende spurlos verschwinden, davon bleibt sie – bis auf eine unschöne Begegnung mit der Polizei – zunächst unwissend und unberührt.

Cover
Selbst als die schwangere Carmen, zu der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte, plötzlich für ein paar Tage bei ihr untertauchen muss, als deren Onkel Tordo auf offener Straße erschossen wird, stellt Alma keine Fragen; selbst als Maritos Vater ihr erzählt, wie „sie“ seinen Sohn folterten, kann das Mädchen keine Zusammenhänge herstellen: „Wer denn, wer denn, wer denn?“ fragte die Stimme, die in meinem Kopf eingesperrt war.“

Es ist eine sehr berührende Geschichte von Freundschaft, Liebe und Verrat, die uns mit der schüchternen Außenseiterin zwischen zwei Welten mitfühlen lässt- und es sind tiefe Emotionen, von denen hier die Rede ist. Erzählt in dem leisen, zurückhaltenden und dabei umso eindringlicheren Tonfall, der der Ich-Erzählerin entspricht. Das bedingungslose Verständnis zwischen Alma, Carmen und Marito findet ebenso poetische Umsetzung wie die Verzweiflung über eigene Schuld und endgültigen Verlust, und dazwischen stehen Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Leiden an der Einsamkeit, Hoffnung und kurze Momente des Glücks.

Schauplatz ist vor allem der Fluss mit seinem immer wiederkehrenden Hochwasser, seinem stetigen Fließen; die flirrende Hitze des Sommers und die wild wuchernde Vegetation bilden die atmosphärisch dichte Bühne, auf der Alma erwachsen wird. Wenn sich das Geschehen im letzten Drittel des Romans mehr nach Buenos Aires verlagert, bekommt die Diskrepanz zwischen den Welten noch härtere Konturen, und es ist nicht ihre geliebte Insel, sondern die Großstadt , in der Alma – im doppelten Wortsinn – ihre Unschuld verliert.

Ein verlorenes Paradies, eine verratene und nie mehr versöhnte Freundschaft, eine durch den Tod auseinandergerissene Liebe. Wer sagt, dass Jugendbücher immer ein gutes Ende haben müssen. Gut ist es jedoch, dass es Jugendbücher wie dieses gibt. Sehr gut sogar.

Karin Haller