Geraldine McCaughrean: Weiße Finsternis

aufregendes Reiseabenteuer in der Antarktis

Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis
München: cbj 2007


In die meisten Abenteuer rutscht man hinein, ohne sie geplant zu haben. So landet die vierzehnjährige Symone in Geraldine McCaughreans neuem Jugendroman „Weiße Finsternis“ auf einer Reise in die Antarktis – ungeplant, aber auch nicht unfreiwillig: Denn schließlich geht damit ihr Traum in Erfüllung. Das schüchterne, zurückgezogene Mädchen identifiziert sich völlig mit der Isolation und Stille des weißen Kontinents; zum imaginären Freund hat sie sich Captain Titus Oates erwählt, vor neunzig Jahren verstorbener Teilnehmer an der Südpolexpedition Robert Scotts. Er begleitet sie – für Symone physisch anwesend – fast immer und überall, mit ihm führt sie lange Gespräche, er kommentiert und relativiert, was sie erlebt und fühlt. Er ist Ratgeber, Vertrauter, tröstender Partner, Seelenverwandter. Verantwortlich für die scheinbar spontane Fahrt ins ewige Eis ist Symones Wahlonkel Victor, ein Freund der Familie, der die Begeisterung des Mädchens initiiert und gefördert hat. Dass er ein ziemlich schräger und unkonventioneller Charakter ist, der auch schon mal die sim-Karte seines Handys aufisst, wird schon zu Anfang des Buches klar. Doch dass er die Reise exakt geplant hat und nicht nur im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinn über Leichen geht, um seine Interessen zu verfolgen, entdeckt Symone und mit ihr der Leser erst im Verlauf der Geschichte.

Denn Victor ist nicht der liebe Onkel, sondern ein Verrückter, der von der Idee besessen ist, unterirdische Labyrinthe mit dort lebenden Menschen zu finden. Deren Entdeckung soll den Höhepunkt seines Lebenswerks bilden, und Symone soll sein Zeuge sein. So findet sie sich – nunmehr unfreiwillig – mit ihm und zwei anderen Männern auf einer wahnwitzigen Fahrt durch die Antarktis wieder, die sie nur knapp überlebt.

„Weiße Finsternis“ lässt an Dynamik und Action nichts zu wünschen übrig. Es erzählt mit kontinuierlich steigendem Tempo, bis sich die Ereignisse überschlagen. Doch das Buch fesselt nicht nur mit seiner hohen Spannungsdichte, sondern vor allem auch durch seinen Humor. Der lakonischer Grundton von Titus Oates prägt die köstlich zu lesenden Dialoge, beißende Selbstironie zieht sich durch alle Schilderungen und Selbstdarstellungen der Ich-Erzählerin.

Cover
Wenn sie das ins Stocken geratene Gespräch mit einem attraktiven Jungen mit dem Satz: „Ich habe gehört, dass Pinguine stinken“ wieder in Gang zu bringen versucht oder auf die Frage, was ihr Onkel beruflich macht, mit „Ja, ich weiß“ antwortet, braucht es keine weiteren Erklärungen.

Doch ihr Gefühl, dass sie in der Antarktis größer ist als anderswo, täuscht sie nicht. Hier, wo andere sich angesichts der Weite und Leere unbedeutend und klein fühlen, wächst sie über sich selbst hinaus. Wird so groß, dass sie – die bisher verlachte Außenseiterin – am Ende für wesentlich älter eingeschätzt wird als sie ist und erstmals um ein Rendevouz gebeten wird.

Denn auch das hat in diesem vielschichtigen, komplexen Text Platz: Die Selbstzweifel und Nöte eines schüchternen jungen Mädchens. Dass sie ihren ersten Kuss ausgerechnet von einem bezahlten Schauspieler bekommt, der eigens für sie zu der arktischen Expedition engagiert wurde, ist zwar Pech, aber angesichts der Umstände auch nicht wirklich wichtig.

Die britische Autorin Geraldine Mc Caughrean ist keine Unbekannte. In den vergangenen 20 Jahren hat sie über 130 Bücher und Theaterstücke geschrieben, darunter auch mehrfach ausgezeichnete jugendliterarische Texte. In ihrem neuen Jugendroman ist ihr das Kunststück gelungen, Unterhaltung mit Anspruch, Spannung mit Reflexion, historischen Hintergrund bruchlos mit fiktiver Handlung zu verbinden. „Weiße Finsternis“ist ein Abenteuer, auf das man sich als Leser mit ausgesprochenem Vergnügen einlässt.

Karin Haller