Meg Rosoff: Was wäre wenn

Das Leben ist ein Spiel, und der Gegner heißt Schickal. Ihm kann man nicht entkommen, davon ist David Case überzeugt.

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
Hamburg: Carlsen 2007


Das Leben ist ein Spiel, und der Gegner heißt Schickal. Ihm kann man nicht entkommen, davon ist David Case überzeugt. Als er seinen kleinen Bruder in letzter Sekunde vor dem Sturz aus dem Fenster rettet, weiß er mit absoluter Sicherheit: Diesmal ist er dem Schlimmsten entkommen, aber das nächste Mal wird das Schicksal zuschlagen. Er ist verdammt, dem Untergang geweiht. Seine einzige Chance besteht darin, sich neu zu erfinden, mit seinem Namen fängt er an. Aus David wird Justin. Justin Case. „Just in Case“ ist auch der Originaltitel des außergewöhnlichen neuen Jugendromans von Meg Rosoff, in der deutschen Übersetzung: „Was wäre wenn.“

Was wäre, wenn das Schicksal eine zynische Gewalt wäre, die mit uns spielt wie die Katze mit der Maus. Wenn unbestimmte, irrationale Ängste nicht nur diffusen Pubertätsnöten, sondern intuitivem Wissen entspringen.

Justin Case kann seinen Namen ändern, seine äußere Erscheinung, kann anfangen Marathon zu laufen - davonlaufen kann er nicht. Als er sich auf den Flughafen von Luton flüchtet und tagelang im Terminal wohnt, fühlt er sich in der anonymen Masse zunächst wieder sicher und stark. „Jetzt kannst du zuschlagen, sagte er zum Schicksal.“ „Kein Problem, schon dabei.“ antwortet dieses, und lässt ein Flugzeug mitten auf dem Flughafen abstürzen. Justin überlebt, doch nur, um kurz darauf mit einer Hirnhautentzündung am Rande des Todes zu balancieren. Dass er das Spiel dann doch gewinnt, liegt an seinen Mitspielern.

Denn das Schicksal hat ihm auch Menschen geschickt, die ihm helfen. „Die Karten verteile ich. Und das ist dein Blatt: ein paar unbedeutende Herzen. Ein Joker. Ein trauriges kleines Kreuz. Willst du ziehen?“

Der Joker, das ist sein Mitschüler Peter, der mit unerschütterlicher Ausgeglichenheit in sich selbst ruht, die Unberechenbarkeit des Lebens durch die Gewissheiten der Naturwissenschaft aufhebt. Die unbedeutenden Herzen – Justins unglückliche Liebe zur etwas älteren Agnes. Eine exzentrische Fotografin, die sich zunächst in der Rolle der mütterlichen Beschützerin gefällt, fasziniert von seiner dunklen Außergewöhnlichkeit. Die ihm zum Wechsel seines Äußeren und ersten sexuellen Erfahrungen verhilft, für eine nachhaltigere Auseinandersetzung mit dem Jungen und seinem Innenleben aber viel zu ichbezogen und oberflächlich ist.

Cover
Nicht die hoffnungslos überforderten Erwachsenen spielen mit, sondern die Kinder. Sie können Justin in seine unerklärbaren und doch so begründeten Ahnungen und Ängste folgen und hinter die Kulissen sehen. Peters Schwester Dorothea, zwar erst elf Jahre alt, aber von einer pragmatischen Bodenständigkeit, die wie ein Anker für Justin ist. Sein kleiner Bruder Charlie, ein einjähriger Weiser, der alles versteht und begreift, auch wenn er seine Gedanken noch nicht in hörbare Worte fassen kann. Und dann gibt es noch Boy, Justins unsichtbaren Windhund. Ein Wesen seiner Fantasie, das aber auch für andere real exisiert. Sie machen das Spiel ausgeglichener – und damit auch für das Schicksal interessanter.

Meg Rosoff zeichnet Justins Leben als eine Art Poker mit unbekanntem Ausgang. Man weiß nie, welche Karte als nächstes kommt – und so wird das Buch spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Herausfordernd im permanenten Wechselspiel zwischen rational Erklärbarem und Unerklärlichem, durch die Komplexität der Erzählung. Denn einfach ist das Buch sicher nicht. Schon mit ihrem Debut „So lebe ich jetzt“ hat die nun in London schreibende New Yorker Autorin die Grenzen jugendliterarischer Fiktion auf hohem literarischem Niveau ausgeweitet – mit „Was wäre wenn“ ist sie noch einen Schritt weitergegangen.

Rosoff fordert dem Leser einiges ab. Man muss sich auf die bis ins Detail durchgehaltene Konstruktion des Textes einlassen, auf den präzis- kühlen Erzählton, der von reflexivem Tiefgang bis zu knochentrockenem Humor alles zu bieten hat. Dann wird man von der starken Dynamik der Ereignisse und der Intensität der Charaktere gefangen. Dann ist man mit im Spiel.

Karin Haller