Dita Zipfel: Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte

„Wer die Musik nicht hört, hält die Tanzenden für verrückt.“

Illustriert von Rán Flygenring
München: Hanser 2019 | 208 S. | € 15,50 | ab 12 Jahren


„Wer die Musik nicht hört, hält die Tanzenden für verrückt.“ Der Spruch gewinnt für die 13jährige Lucie zusehends an Aussagekraft, als sie auf der Suche nach einem Nebenjob Herrn Klinge kennenlernt. Der in Outdoor-Uniform mit Helm und Seil am Gürtel, aber ohne Schuhe einen ziemlich schrägen ersten Eindruck macht. Lucie erhält von ihm den Auftrag, nach seinem Diktat Rezepte aufzuschreiben. In denen spielen Obst und Gemüse eine Rolle, die - davon ist Herr Klinge überzeugt - in Wahrheit aus den Körperteilen magischer Wesen bestehen. In seiner Welt ist eine Tomate ein Drachenherz und eine Himbeere Nixenhirn. Unter ganz bestimmten Umständen können Menschen deren magische Kräfte nutzen, und nachdem Herr Klinge der einzige ist, der die dafür erforderlichen Zubereitungsarten kennt, ist es nur natürlich, dass er von Geheimdiensten verfolgt wird.

„Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte“, das jugendliterarische Debut von Dita Zipfel, bietet von der ersten Zeile an unkonventionelles, sehr unterhaltsames Lesevergnügen. Erzählerisch wird der Text durch die Illustrationen der Isländerin Rán Flygenring um eine zusätzliche Dimension erweitert, die farbstarken Bilder, figuralen Darstellungen und Sprechblasen nehmen für ein Jugendbuch ungewöhnlich viel Raum ein. Text wie Bild hinterlassen einen starken Eindruck, Dita Zipfels Sprache ist voller Kraft. Die Autorin arbeitet sich durch ausufernde Wortkaskaden, um dann wieder sehr knapp zu formulieren - prägnant ist beides. Beispielhaft für den Tonfall der Erzählung sei ein innerer Monolog Lucies am Beginn des Buches zitiert, zu diesem Zeitpunkt ist das Mädchen noch der Meinung, von Herrn Klinge als Hundesitterin engagiert zu werden: „Ich werde diesen Hund so was von Gassi führen, ich werde seinen Kopf tätscheln – egal wie hässlich er ist – , ich werde mit ihm um den Block gehen bis ihm schwindelig ist, ich werde ihm seine Scheiße in kleinen schwarzen Beuteln hinterhertragen und neben ihm warten, wenn er an einen Busch pinkelt. Ich werde andere Gassigänger grüßen, als wären wir Mitglieder des gleichen Geheimklubs, werde dem Wind trotzen und der Sonne, ich werde ihn zurückhalten, wenn er andere Hunde bespringen oder kleine Kinder auffressen will. Ich werde alles tun, von mir aus dreimal am Tag. Dieser Hund ist meine Rettung, ich hab´s mir ausgerechnet.“

Und Lucie braucht Rettung, diesen Job, Geld für das Ticket nach Berlin zu Bernie, der ehemaligen Lebensgefährtin der Mutter, weg vom neuen Mann in deren Leben, dem klischeetriefenden Esoterik-Michi mit seinen stundenlangen Teezeremonien. Gar nicht zu reden davon, dass er sie aus ihrem eigenen Zimmer ausquartiert hat. Die für sie unhaltbare Familiensituation passiv zu erdulden, ist Lucies Sache nicht. Dazu ist diese Ich-Erzählerin zu tatkräftig und schnell im Kopf, zu fantasievoll und mutig. Keine, die so leicht aufgibt. Dass sie - auch wegen der lesbischen Vergangenheit ihrer Mutter - von den Tussen in ihrer Klasse gemobbt wird, bereitet ihr keine schlaflosen Nächte. Interessanter ist da schon der blonde Marvin, da kann sie schon mal daran denken, Ketchup mit Drachenherz als Liebestrank à la Kling auszuprobieren. Blöd ist, dass sich dieser Marvin als gehässiger, gemeiner Angeber herausstellt, gut ist aber, dass Lucie durch ihn Leo kennenlernt, und der ist ganz anders…

Dita Zipfel: Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte
Dieses Buch ist eine Hommage an alle, die sich einen eigenen Blick auf die Welt bewahrt haben, ohne sich um die abwertenden Urteile und Vorurteile anderer zu scheren, an die „Außenseiter mit erhobenem Haupt“, wie die Autorin ihre Heldin im Nachwort selbst charakterisiert. Es kämpft für die Buben, die zum Kinderfasching als Meerjungfrauen gehen und deshalb nicht am Kostümwettbewerb teilnehmen dürfen, da hätten sie schon als Piraten gehen müssen, und für die Alten, die sich nicht an feste Rollenvorgaben halten wollen, Es nimmt sich die Freiheit, nicht alles auszuerklären, die Verrücktheiten Herrn Klinges und sein weiteres Schicksal nach seinem Verschwinden unaufgelöst zu lassen, so wie man auch nicht erfährt, wie es denn weitergeht mit Lucie, nachdem sie den Zug nach Berlin bestiegen hat. Als Lesende wünscht man diesem Mädchen jedenfalls, dass sie sich ihre Unerschrockenheit bewahrt, ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Und man wünscht sich mehr Bücher, die so überraschend und unvorhersehbar sind wie dieses. Ach ja: Herrn Klinges Rezepte, etwa für das Rösti des Lebens/Sterbens, lassen sich gut nachkochen. Auf eigene Gefahr, versteht sich.

Karin Haller