Tamara Bach: Von da weg

Sie kann nicht raus. Er will erst gar nicht.

Hamburg: Carlsen 2024. 176 S., € 15,50. ISBN-13 978-3-551-58543-1

Von wo weg zu wollen, bedeutet nicht zwangsläufig, ein Ziel zu haben. In ihrem neuen Jugendroman „Von da weg“ erzählt die vielfach ausgezeichnete Berliner Autorin Tamara Bach von vier Mädchen verschiedener Generationen, die aufbrechen, um an einem neuen Ort ihren Platz in der Welt zu finden. „Was hattest du denn vor (….)?“ fragt Josepha irgendwann.“ „Weg sein“, sagt Ruth und hört Josepha dunkel kichern. „Weg sein“, wiederholt die leiser. „Das klingt nach einem Plan.“
Nicht immer sind die räumlichen und zwischenmenschlichen Brüche freiwillig, doch immer verlangt die Suche nach einem Zuhause von den jungen Frauen: sich darüber klar zu werden, was das für sie überhaupt bedeutet.

Im Mittelpunkt steht zunächst die zwölfjährige Kaija, deren Familie in das Elternhaus ihrer Mutter in eine ländliche Kleinstadt gezogen ist. Der Erwartungshaltung der Eltern, in der neuen Schule rasch Freunde zu finden, entzieht sich das Mädchen konsequent und radikal; sie macht sich unsichtbar, verweigert jeden Annäherungsversuch. Das Ausmaß ihrer Einsamkeit zeigt sich in den Angstattacken, die sie tapfer wegzuatmen versucht, wie in der verstörenden Tatsache, dass sie immer noch den Kontakt zu ihrer alten Clique sucht. Zu denen, die sie gemobbt haben und nach wie vor ausgrenzen. Ihre Mutter ist Kaija keine große Hilfe –Ruth ist selbst viel zu sehr damit beschäftigt, sich wieder einzugewöhnen. „Alles neu. Alles alt und neu“.
Warum ihr das so schwer fällt, wird klar, als Tamara Bach vorübergehend die Perspektive zu ihr, Kaijas Mutter, wechselt. Eine kunstaffine junge Frau, die nach dem Abitur in den 1990er Jahren so rasch als möglich die Provinz hinter sich lassen, reisen will. „Weil die Welt groß ist und auf sie wartet.“ Unmittelbar nach dem Aufbruch verliert sie beide Eltern durch einen Unfall und damit ihren Ankerpunkt. „So allein war Ruth noch nie. Wie jemand, der nicht weiß, wie er nach Hause kommt.“

 

bach vondaweg

Alle Hauptfiguren des Romans erfahren dieses Gefühl existentieller Einsamkeit und innerer Obdachlosigkeit, es sind diese Momente, die aus den Biografien hervorgehoben werden. So auch bei Kaijas Großtante Josepha. Wie Ruth an der Schwelle zum Erwachsensein stehend, trägt sie – eine Generation vor ihrer Nichte – Hosen in einer Zeit, in der das noch eher die Ausnahme war. Sie weiß, dass sie nicht heiraten und dass sie keine Kinder kriegen wird, und Männer küssen will sie auch nicht. „Ich bin anders als die anderen. Ich werde hier nicht glücklich. Ich stell mir das alles anders vor, ich weiß bloß noch nicht genau, wie. Ich will von hier weg.“

Die vierte Erzählerinnen-Stimme, Sina, Ruths beste Freundin seit immer schon, hat zwar auch kein klares Ziel, aber einen anderen Ausgangspunkt: ihre Familie braucht sie. Sie wird nicht aufbrechen und die Kleinstadt hinter sich lassen wie Ruth. Sina wird heiraten und ein Kind kriegen. Ihrem Hierbleiben haftet auch ein Müssen an.

„Von da weg“ ist ein intensiver, spannender Text, in dem die Autorin wie immer mit beeindruckender Präzision und Effizienz erzählt. Knappe, klare Sätze folgen einem melodiösen Sprachrhythmus, halten wie in einer Bildbeschreibung äußere Details fest, lassen vieles unausgesprochen. Die Emotionen, die Gedanken der Hauptdarstellerinnen erliest man sich meist selbst zwischen den Zeilen. Anders als mit dieser hohen Erzählökonomie wäre es in einem so schmalen Band auch nicht möglich, die Charaktere derart nachvollziehbar spürbar zu machen, miteinander in Verbindung zu setzen und überdies das Lebensgefühl verschiedener Jahrzehnte einzufangen.

Neben vielem anderen geht es auch um Weiblichkeitsentwürfe. Hier sind nicht Männer die Entdecker und Abenteurer, sondern die Frauen. Kaijas Vater, wiewohl als Australier in Deutschland auch ein „Fremder“, wirkt am allerwenigsten heimatlos. Er ist derjenige, der „wie ein verzweifelter Dirigent“ versucht, den Alltag zu strukturieren, die Gesprächstäler zu überbrücken, die Verweigerungshaltungen der drei Frauen aktiv aufzubrechen. Mit wechselndem Erfolg.

Die letzte Episode endet damit, dass Kaija mit anderen Mädchen, die sie mit der Zeit vorsichtig an sich heran gelassen hat, schwimmen geht. Ins Wasser springt. Irgendwo weg zu gehen, bedeutet im besten Fall, anderswo anzukommen. Was mitunter eine bewusste Entscheidung erfordert.

Karin Haller