Lilli Thal: Vialla und Romaro

Nicht nur Kinder, wie es Bruno Bettelheim postulierte, brauchen Märchen. Auch Jugendliche und Erwachsene, die sich in eine Welt hineinlesen wollen, in der alles absolut ist. Das Gute und das Böse, die Liebe und der Hass.

Hildesheim: Gerstenberg 2007


Nicht nur Kinder, wie es Bruno Bettelheim postulierte, brauchen Märchen. Auch Jugendliche und Erwachsene, die sich in eine Welt hineinlesen wollen, in der alles absolut ist. Das Gute und das Böse, die Liebe und der Hass. In der es zauberkräftige Geister und Dämonen gibt und dennoch die Menschen siegen. Lilli Thal hat mit „Vialla und Romaro“ so ein Märchen geschrieben.

Sie erzählt von einer archaischen Welt, in der die Menschen in weit voneinander entfernten Dörfern in einem durch die Natur strukturierten Mikrokosmos leben. Der gezähmte Wald ist ihnen Schutz und Lebensgrundlage, der wilde Wald todbringende Gefahr. Und doch müssen Vialla und Romaro genau dorthin fliehen, um einen Ort zu finden, wo ihre Liebe nicht verboten ist. Der Weg ins Ungewisse führt sie an einem Teich in die Fänge eines uralten Wasserdämons, der Romaro gefangennimmt, ihm seine Erinnerungen und sein Selbst raubt, ihm mit Zauberkraft eine Welt voll Lug und Trug vorgaukelt. Das Gefängnis einer hohlen Weide ist dem verblendeten Jungen ein Palast, der abgrundtief hässliche Dämon ein wunderschönes Mädchen, Würmerfraß wird zu köstlicher Speise. Vialla muss am Teichufer miterleben, wie der Dämon seine Wollust an ihrem Geliebten auslebt, ihn von Tag zu Tag mehr zerfleischt. Doch sie bleibt, unternimmt alles, um ihn zu retten, wochenlang ohne Erfolg. Bis am Ende, als Romaros Tod unabwendbar scheint, der Dämon doch besiegt werden kann. Und die beiden Liebenden ein Dorf im Westen finden.

Alles ist so, wie es sein soll. Die Liebe zwischen Vialla und Romaro, die phonetisch nicht zufällig an andere literarische Vorbilder erinnern, ist Bestimmung, bedingungslos und stärker als jede andere Macht auf der Welt. Das Böse ist hässlich und furchterregend und doch nicht unbesiegbar, in seiner Eitelkeit und seiner Gier nach Liebe und Lust sogar fast menschlich. Die Dialoge zwischen Vialla und dem Dämon erinnern mehr an das Gekeife eifersüchtiger Konkurrentinnen als an den ungleichen Kampf zwischen Mensch und Fabelwesen. Und am Ende geht alles gut aus.

Cover
Lilli Thal schafft in ihrem dreihundert Seiten starken Buch eine homogene Märchenwelt, deren Schauplätze mit plastischer Intensität gestaltet werden:

Die Dörfer, in denen Brautzüge die Eheschließungen regeln und die Erde eine Scheibe ist. Der Wald, der die Welt ist, „ein Herrscher voll Macht und Majestät“.

Die prachtvolle Scheinwelt des Dämons, der den Menschen genau das vorgaukelt, was sie sich wünschen und doch nichts aus eigener Kraft erschaffen kann - seine Trugbilder sind auf die Erinnerungen derjenigen angewiesen, die er bereits zu Tode geliebt hat. Die Realität von Romaros Gefangenschaft in der Weide, die der irrealen Makellosigkeit in allen unappetitlichen Details gegenübergestellt wird – angesichts all der Maden, Würmer, geqüälter Kreaturen und Wunden braucht man mitunter einen guten Magen. Man kann Lilli Thal nicht vorwerfen, sich vor kraftvollen Bildern zu scheuen – ihren schönen poetischen Tonfall behält sie aber immer bei.

Trotz des für ein Märchen beachtlichen Textumfanges, der bekannten Bausteine und des vorhersehbaren Endes entwickelt „Vialla und Romaro“ große Spannung – auch wenn man weiß oder hofft, dass die Liebe siegt, will man doch wissen wie. Was die beiden Protagonisten noch alles an Herausforderung und Qual zu erleben haben. Romaro, bemitleidenswertes Opfer einer übernatürlichen Macht, Vialla, Kämpferin von unerschütterlicher Stärke und Willenskraft. Wie ihr Name, Vialla – Sturmblume, so steht vieles in diesem Buch für sich und ist gleichzeitig Metapher.

Ein Märchen eben. Und das braucht man wie gesagt in jedem Alter. Erst recht, wenn es so gut erzählt ist wie dieses.

Karin Haller