Timothée de Fombelle: Vango

„Ich habe Seile von Turm zu Turm gespannt, Girlanden von Fenster zu Fenster, goldene Ketten von Stern zu Stern, und ich tanze“.

Zwischen Himmel und Erde
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Sabine Grebing
Hildesheim: Gerstenberg 2011


„Ich habe Seile von Turm zu Turm gespannt, Girlanden von Fenster zu Fenster, goldene Ketten von Stern zu Stern, und ich tanze“. Vango, der titelgebende Protagonist in Timothée de Fombelles neuem Roman, tanzt nicht, wie es die Zeilen von Arthur Rimbaud vorgeben, er flieht. Das aber mit Geschicklichkeit und Eleganz, über die Dächer von Paris, an Mauerfassaden entlang, „zwischen Himmel und Erde“, wie es der Untertitel beschreibt. Vorwiegend in der Senkrechten, die er für sich erobert hat als würde es die Schwerkraft nicht geben. Gehetzt, verfolgt von Mächten und Menschen, die einen Mord begangen und ihm in die Schuhe geschoben haben, von der französischen Polizei, einem russischen Killer. Den Grund dafür kennt er nicht – doch langsam wird klar: Es muss etwas mit seiner mysteriösen Herkunft zu tun haben. Denn Vango wurde als Kleinkind mit seiner Amme auf der äolischen Insel Salina an Land gespült, wer seine Eltern waren, woher er kam und wohin sie unterwegs waren, all das ist ihm unbekannt. Und Mademoiselle, die einzige, die die Wahrheit kennt, schweigt, um ihn zu schützen.

Die Verfolgungsjagd führt den knapp Zwanzigjährigen quer über den europäischen Kontintent, spielt in Paris, am Bodensee, vor Sizilien und in Schottland, und nicht zuletzt an Bord eines Zeppelins. Denn wir schreiben die Jahre 1934 bis 1936, die Explosion der Hindenburg wird erst ein Jahr später das Ende dieser Luftschiffe bedeuten, und noch kann Hugo Eckener den Fliehenden als blinden Passagier mit an Bord nehmen.

Fulminant spiegelt sich die Atemlosigkeit Vangos, der niemals zur Ruhe kommen darf, in Fombelles Erzählweise wieder: Sehr hohes Tempo, viel Dynamik, schnelle Schnitte, in denen Zeiten, Personen, Handlungsräume ständig wechseln und vielerlei Nebenstränge entwickelt werden, die wie Flüsse in einen Strom in Vangos Schicksal münden. Ethel, die emanzipierte junge Schottin, die ihn liebt, das wie ein Phantom agierende, ihn beschützende Pariser Mädchen, das sich selbst „Maulwurf“ nennt, ein selbstgefälliger Pariser Kommissar – sie sind nur wenige Beispiele für eine Vielzahl von Charakteren. Der Autor verbindet ohne Berührungsängste fiktive mit realen Personen, im detailliert recherchierten Zeppelin stimmen sogar die Namen der Besatzung oder der Passagiere.

Cover
Psychologischen Tiefgang darf man sich von den Darstellern nicht erwarten, auch wenn manche von ihnen durchaus scharf konturiert sind – in diesem Buch dominieren Handlung, Geschwindigkeit, Action. Und starke Bilder:

„Vierzig weiß gekleidete Männer lagen auf den Pflastersteinen. Es sah aus wie ein Schneefeld.“ Mit diesen beiden Sätzen wird der Lesende in das Geschehen vor Notre Dame hinein katapultiert, Vango soll zum Priester geweiht werden, um schon wenige Seiten später flüchtend an der Kathedrale hochzuklettern. Fombelle schreibt sehr visuell, das Buch läuft wie ein Film vor einem ab. Für einen Abenteuerroman selten, ist es dem Autor dabei auch gelungen, stellenweise knochentrockenen ironischen Witz einzubauen. Nicht nur der französische Kommissar wird in bisweilen absurde Situationen gestellt, auch die Nazis werden zur Zielscheibe seines Spottes: „Er brüllte seinen Männern ein paar kurze Befehle zu, rief zwei oder dreimal „Heil Hitler“ und streckte den rechten Arm in alle Richtungen. Er grüßte sogar eine herumliegende alte Bahnhofsuhr …“ Verharmlost wird jedoch nichts, unübersehbar und bedrohlich bleibt das riesige Hakenkreuz, das der Zeppelin als Machtsymbol zu tragen hat.

Der Autor verwendet den historischen Kontext Mitte der Dreißiger Jahre in Europa als Hintergrundfolie und setzt bei der Lektüre einiges an zeitgeschichtlichem Wissen voraus. Man sollte etwa mit dem Namen Josef Stalin schon etwas anfangen können, der ebenfalls in dem Buch auftritt – er ist es auch, der offensichtlich hinter der Verfolgung steht. Ob Vango, dessen Nachname wohl nicht ganz zufällig „Romano“ lautet und im Oktober 1918 – also drei Monate nach Beginn der russischen Revolution - vor Sizilien standete, tatsächlich der Zarenfamilie entstammt, bleibt allerdings offen. So wie viele andere Fragen und unabgeschlossene Handlungsstränge. Denn „Zwischen Himmel und Erde“ ist nur der erste von zwei Bänden, der zweite wird im Herbst 2012 erscheinen, und bis dahin muss sich der Lesende gedulden. Was zugegebenermaßen schwer fällt.

Karin Haller