Benny Lindelauf: Unsere goldene Zukunft

„Neun offene Arme“ – so heißt der verwitterte Backsteinbau außerhalb der Stadt, in dem Fing Boon zuhause ist, in Limburg im Süden der Niederlande, ganz nahe an der Grenze zu Deutschland.

Übersetzt von Bettina Bach
Berlin: Bloomsbury 2012


„Neun offene Arme“ – so heißt der verwitterte Backsteinbau außerhalb der Stadt, in dem Fing Boon zuhause ist, in Limburg im Süden der Niederlande, ganz nahe an der Grenze zu Deutschland. Und so warm und geborgen, wie dieses „neun offene Arme“ klingt, so fühlt sich auch das Leben in der vielköpfigen Familie an, das der junge holländische Autor Benny Lindelauf in seinem neuen Roman „Unsere goldene Zukunft“ zeichnet. Zumindest am Anfang, in den Jahren 1938 und 39, vor der Besatzung durch die Deutschen, vor dem Krieg, der alles verändert.

Mit eiserner Disziplin werden die sieben Boon-Kinder von ihrer Großmutter, Omm Maij, erzogen; die Mutter ist gestorben, der träumerisch und hoffnungslos optimistisch veranlagte Papp versucht sich gerade als Zigarrenhersteller. Die Regeln in diesem Familiengefüge sind klar. Da gibt es die vier älteren Brüder, und es gibt die Mädchen: Fing, die verantwortungsbewusste älteste Schwester, die abenteuerlustige Müllche, und die kleine Ness, auf die Fing wegen eines verrutschten Wirbels ganz besonders aufpassen muss. „Eine Schwesternmaschine, deren Zahnräder wie geschmiert ineinandergriffen, das waren wir.“ Und sie alle haben einen Heidenrespekt vor der nicht gerade zimperlichen Omm Maij, deren Worte Gesetz sind. So rebelliert Fing nicht einmal, als es Omm mit sturem Stolz ablehnt, dass sie als Klassenbeste eine Förderstelle am Lehrerseminar erhalten soll. Fing wird von der Schule genommen und als Hausangestellte beim Zigarrenkaiser und seiner Frau, der Prüüszeschen, untergebracht. In Wahrheit soll Fing eine Freundin für Liesl sein, die plötzlich als Nichte der Prüüszeschen aufgetaucht ist. Dass Liesl in Wahrheit Leeba heißt, erfährt Fing erst ganz am Ende des Buches …

„Unsere goldene Zukunft“ erzählt viele Geschichten nebeneinander und ineinander verwoben: Die Geschichte der besetzten Niederlande im Nationalsozialismus, in der die Juden verfolgt und vernichtet werden und die niederländische nationalsozialistische NSB in ihrer Jugendorganisation „Jugendsturm“ den Nachwuchs indoktriniert.

Die Geschichte der Familie Boon, die hofft, sich aus allem raushalten zu können, und auseinandergerissen wird: Die vier Brüder, die den Ernst der Lage und ihre deutschen Besatzer dramatisch unterschätzen, müssen nach einem dummen Lausbubenstreich nach Deutschland ins Arbeitslager, gemeinsam mit ihrem Vater, der – wenn es um seine Kinder geht – alle Friedfertigkeit ablegt.
Die Geschichte des jüdischen Mädchens Leeba, das die Reichskristallnacht überlebt und über die Grenze in die Niederlande geschmuggelt wird, bis sie auch von dort wieder fliehen muss.

Und es ist, vor allem anderen, die Geschichte der Ich-Erzählerin Fing, die die einzelnen Stränge zusammenhält. Indem sie die Freundin der schwer traumatisierten Liesl werden soll, in Unkenntnis der Hintergründe jedoch an deren bösartigem Charakter scheitert und sie am Ende doch rettet. Indem sie sich, in noch kindlicher Unschuld, auf einen Jungen aus dem Jugendsturm einlässt. Indem sie von Kapitel zu Kapitel mehr ihre Kindlichkeit verliert, erwachsen wird in einer Zeit, in der für Naivität kein Platz ist.

Cover
Diese ausgesprochen spannende Familiensaga bettet ein individuelles Schicksal exemplarisch in die großen historischen Verläufe ein und setzt dabei auf Details und die Genauigkeit der Beobachtung. Fings Erzählerstimme vermeidet Sentimentalitäten, drückt Emotionen vorzugsweise knapp und durch Aussparungen aus. Das kommt alles sehr glaubwürdig daher, gerade auch in den Dialogen, in denen sich feinerweise viele Ausdrücke aus dem Öcher Platt finden – im niederländischen Original Limburger Dialektausdrücke. „Onsen“ statt „Unsinn“ und “Niehzüüg“ statt „Nähzeug“, nachzulesen im Glossar. Die Übersetzerin Bettina Bach hat großartig gearbeitet; dass dieses Buch sprachlich so dicht und schön ist, ist in der deutschen Version sicherlich auch ihr Verdienst.

„Unsere goldene Zukunft“ erzählt stark in Bildern – in diese Welt kann man sich mit großer Intensität hineinleben, so wie in die komplexen, mehrdimensionalen Charaktere: Gerade Fing ist, wie sie auch selbst immer wieder feststellen muss, keine Heilige, sondern durchaus zu moralisch unsauberen Aktionen fähig.

Im Vorgängerroman, „Das Gegenteil von Sorgen“, wurde „Neun offene Arme“ gefunden, am Ende dieses Buches brennt das Haus ab. Man wünscht sich als Lesender, dass Benny Lindelauf den Boons irgendwo ein neues Zuhause aufbaut und Fing doch eine goldene Zukunft erwartet. Hoffentlich bald.

Karin Haller