Antje Wagner: Unland

Wie entsteht Spannung? Eine Frage, die sich in der Physik eindeutiger beantworten lässt als in der Literatur. Wie sich ein spannendes Buch liest, erlebt man jedenfalls bei Antje Wagners Jugendroman „Unland“.

Berlin: Bloomsbury 2009


Wie entsteht Spannung? Eine Frage, die sich in der Physik eindeutiger beantworten lässt als in der Literatur. Wie sich ein spannendes Buch liest, erlebt man jedenfalls bei Antje Wagners neuen Jugendroman „Unland“.

In „Haus Eulenruh“, einem von Pädagogen betreuten Wohnprojekt, soll Franka ihr neues Zuhause finden: eine Herausforderung für die Vierzehnjährige, die sich nach einem Leben in Heimen und Pflegefamilien in Berlin plötzlich in Waldburgen wiederfindet, einem Kaff irgendwo in Sachsen-Anhalt. In der Eulenruh – Gemeinschaft lebt sie sich mit Unterstützung der fast gleichaltrigen Zwillinge Lizzy und Ann schnell ein, zu Ricardo entwickelt sich sogar in Ansätzen mehr als nur Freundschaft. In der Schule jedoch ist das Mädchen, das optisch wie ein Junge aussieht, von der ersten Stunde an klassische Außenseiterin. Aber das sind sie aus Haus Eulenruh für die Dorfbewohner ja alle: Pflegekinder, also potentiell kriminell, asozial und im Falle der Mädchen leicht zu haben. Als plötzlich eigenartige Diebstähle begangen werden, scheint alles klar zu sein, erst recht, nachdem ein Beweisfoto auftaucht.

Soweit entwickelt sich der Roman wie ein gängiger realistischer Text – und doch werden von Anfang an Elemente eingeführt, die den Realismus brechen. Denn irgendetwas stimmt nicht in Waldburgen. Seltsame Dinge gehen vor. Jede Sonntagnacht fällt der Strom aus und dann sind alle Bewohner panisch darauf bedacht, nicht aus ihren Häusern zu gehen. Dem Nachbarn werden Lebensmittel vor die Tür gestellt, die er angeblich an Bedürftige verteilt. Doch wie Franka beobachtet, bringt er sie in Wahrheit nach Unland: in ein abgesperrtes, von einem elektrischen Zaun geschütztes Gebiet mit alten, verbrannten Häuserruinen. Unheimlich und absolut verboten. Eine Tabuzone, über die nicht einmal gesprochen wird.

Cover
Die Nachforschungen rund um die Diebstähle führen Franka und ihre Freunde immer tiefer in Richtung Unland. Bald wird die Suche nach dem Urheber der Ereignisse immer mehr zur Suche nach der Lösung des Geheimnisses, das Unland und Waldburgen seit langer Zeit miteinander verbindet. Es gelingt ihnen auch, das Mysterium zu entschlüsseln, aber genau das werden sie bereuen ...Das erste Jugendbuch der jungen deutschen Autorin, die bereits sechs allgemeinliterarische Romane veröffentlicht hat, hat einige Stärken, etwa seine dichten Charaktere und eine handwerklich ausgefeilte Sprache. Eine attraktive Note ist auch die erzählerisch betonte Verwendung von aktueller Populärmusik, deren Tracklist sich im Anhang als „inoffizeller Soundtrack“ findet. Deutscher Hip-Hop, amerikanischer Mainstream, Soul – eine wilde Mischung. Schon einige Autorinnen und Autoren, Tamara Bach zum Beispiel, haben mit dieser Technik gearbeitet – und wenn sie funktioniert, dann werden Emotionen ohne weitere Verbalisierungen deutlich.

Was den Roman aber vor allem lesenswert macht, ist seine Spannung. So wie es sich für einen Horror-Thriller gehört, werden Figuren und Leser im Dunkeln gelassen. Hinweise werden nur spärlich nach und nach gegeben. Die alarmgesicherte Stadtchronik in der Bibliothek mit der rätselhaften Inschrift „Lasst die Schatten frei“, Frankas Gefühl, beobachtet zu werden, Diebstähle und Verleumdungen führen auf richtige und falsche Fährten.

Die Auflösung kann man mögen oder auch nicht, je nachdem, welche Affinität man zur Mystery hat; auch das aprupte Ende kann positiv als offener Ausgang oder kritisch als zu krasser Cliffhanger gesehen werden. Eines aber ist der Geschichte keinesfalls abzusprechen: dass sie richtig gut erzählt ist. Eine laute Antwort auf den Pädagogenruf nach anspruchsvoller spannender Jugendliteratur.

Karin Haller