Alina Bronsky: Und du kommst auch drin vor

Kim liest nicht. Womit sie eine Familientradition hochhält, schließlich kann sich ihre Mutter auch nur dunkel an „Hanni und Nanni“ als letzte Lektüre erinnern.

München: dtv 2017


Kim liest nicht. Womit sie eine Familientradition hochhält, schließlich kann sich ihre Mutter auch nur dunkel an „Hanni und Nanni“ als letzte Lektüre erinnern. Dementsprechend überrascht ist das Mädchen dann, als sie mit ihrer Schulklasse an einer Lesung teilnimmt – und ihr die Geschichte merkwürdig bekannt vorkommt. „Ich konnte es nicht fassen. Was diese Leah Eriksson da nuschelte, handelte von mir. Von meiner Familie. Von meinem Leben. Von meinen Gedanken. Es kamen andere Namen drin vor und ein paar unwichtige Details stimmten nicht. Aber der Rest war ich.“

Da kann die Autorin noch so oft beteuern, dass sie einfach ein durchschnittliches Teenager-Schicksal beschrieben hat – Vater verlässt Familie, weil seine Freundin ein Kind erwartet, Mutter reagiert darauf mit übersteigerten Selbstoptimierungsmaßnahmen wie Yoga und dem Abwiegen einzelner Haferflocken – Kim lässt sich nicht beirren: Dieses Buch erzählt, wie es in ihrem Leben zu – und weitergeht. Und zwar im wörtlichen Sinne. „Was ich lese, tritt ein.“ Zu ihrem Entsetzen liest sie, dass der in die Hauptfigur – also in sie – verliebte Junge an einer allergischen Reaktion sterben wird. Wodurch ihr überhaupt erst auffällt, dass Jasper sie schon die ganze Zeit anhimmelt. Klar, dass sie sich jetzt für sein Schicksal verantwortlich fühlt, sein Leben muss gerettet werden, koste es, was es wolle. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Petrowna versucht sie, den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Und weil sich zu Kims Unwillen die Autorin weigert, ihre Verantwortung für Jaspers Leben wahrzunehmen und das bereits publizierte Buch umzuschreiben, müssen die beiden Mädchen zu härteren Maßnahmen greifen. Einbruch bei der Künstlerin inklusive…

In „Und du kommst auch drin vor“ hat Alina Bronsky einer Vierzehnjährigen ihre Stimme gegeben, deren Teenager-Seele ausnahmslos nur die eigene Befindlichkeit wahrnimmt. Mit einer gar nicht böswilligen, sondern geradezu naiv-sympathischen Ignoranz bezieht die Ich-Erzählerin alles und jedes auf sich, dementsprechend auch das erste Buch, das ihr eine Identifikationsfigur bietet. Erst gegen Ende ahnt das verwöhnte, aus relativ wohlhabendem Haus stammende Einzelkind, dass es vielleicht doch nicht der alleinige Nabel der Welt ist und interessiert sich tiefergehend für Petrowna und deren so anderes Leben.

Petrowna, je nach Figurenperspektive „die asoziale Dicke“, O-Ton Kims Mutter , oder „deine Freundin mit Migrationshintergrund“ in der Wahrnehmung von Leah Eriksson, ist die eigentliche Heldin in dieser Geschichte, hochintelligent, phantasievoll, eloquent und sehr praktisch veranlagt. Sie ist der Motor, sie prägt mit ihren Einfällen und ihrer Initiative den Verlauf der Handlung und sorgt dafür, dass schließlich auch Kim dahinterkommt, wie sie selbst für ihr Leben verantwortlich ist.

Cover
„Und du kommst auch drin vor“ ist aber nicht nur eine „Coming of Age“-Story, sondern auch ein äußerst unterhaltsamer Roman über Literatur und ihre Vermittlerinnen, über Schreibende und ihre Leserinnen. Mit viel Ironie überzeichnet Bronsky, die 2008 am Bachmann-Preis teilnahm und mit „Baba Dunjas letzte Liebe“ 2015 für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, ihr eigenes Metier unter lustvoller Verwendung von Klischees. Beim Betreten einer Buchhandlung klingelt ein Glöckchen, aber dafür müffelt es weniger als in der Bücherei, wo es nach halbtoten Omas und Staub riecht: „Vielleicht, weil die Bücher hier neu waren, oder die hier hatten die bessere Putzfrau.“ Mit besonderem Vergnügen widmet sich Bronsky der Figur der Autorin Leah Eriksson, einer unglücklich aussehenden einsamen Person, die eigentlich Tina Müller heißt und ihr Gesicht hinter speckigem, schwarz gefärbtem Haar versteckt, viel zu leise und schlecht liest und - auch wenn sie Jugendbücher schreibt - überhaupt keinen Draht zu Jugendlichen hat. „Leah Eriksson war der lebende Beweis dafür, dass Menschen anständige Berufe brauchten, irgendwas mit Medikamenten oder Motoren.“

Es ist zu hoffen, dass Alina Bronsky keine realen Erfahrungen damit hat, nie mit Computerkabel gefesselt und einer Socke geknebelt in ihrem Schlafzimmer vor einer ihrer Leserinnen gesessen ist. Aber was die literarische Figur Leah Eriksson an Frustration über Schülerinnen, die sich für eine verspätete Antwort auf mails mit fiesen Rezensionen im Netz rächen, herausbrüllt, das wirkt doch recht authentisch. Genauso wie auch die Eingangsszene, die Lesung vor Jugendlichen in einer Bücherei. Jan Wagner, aktueller Büchner-Preisträger, meinte in einem Interview, es komme für viele Schülerinnen und Schüler überraschend, dass es auch Dichter gibt, die noch am Leben sind. Nicht alle reagieren darauf mit Begeisterung. Die Chancen, dass „Und du kommst auch drin vor“ mit großem Vergnügen gelesen wird, und das in jedem Alter, stehen allerdings sehr hoch.

Karin Haller