Sarah Jäger: Und die Welt, sie fliegt hoch

Sie kann nicht raus. Er will erst gar nicht.

Illustriert von Sarah Maus. Hamburg: Rowohlt 2024. 272 S., € 20,60. ISBN-13 978-3-7571-0007-0

„Hallo? Ist da jemand? Hallo? Ava hier. Wir kennen uns, oder?“
„Woher hast du meine Handynummer?“
Früher gab es Briefromane oder auch Romane, die sich aus e-mails zusammensetzen. Der neue Jugendroman Sarah Jägers „Und die Welt, sie fliegt hoch“ besteht ausschließlich aus Sprach- und Textnachrichten, üppig illustriert mit comicartigen Bildern von Sarah Maus.
Zwei Vierzehnjährige sitzen jeweils in ihrem Zimmer. Die eine, Ava, weil sie Hausarrest hat und nicht raus darf, der andere, Juri, weil er nicht raus will: „Ich habe das Gefühl, dass mir nur in meinem Zimmer nichts passieren kann, dass ich nur hier sicher bin.“
Innerhalb der letzten zwölf Tage in den Sommerferien, die runtergezählt werden, entfaltet sich der Dialog zwischen zwei Jugendlichen, die nicht unterschiedlicher sein könnten: Für Juri ist die Welt draußen ein Ort, in dem er ständig den Halt zu verlieren droht, für Ava ist sie Spielplatz und Partyzone. Für das Mädchen, das nur ja nichts verpassen will, war der covidbedingte Online-Unterricht schrecklich, für den Jungen erleichternd. Danach wieder in die Schule zu müssen, damit ist er einfach nicht mehr klar gekommen. Hat alle möglichen Ausreden erfunden, um nicht mehr hinzumüssen, schließlich haben ihn die Sommerferien gerettet. Für sechs Wochen, aber der Countdown läuft.

Jeden Tag texten sie einander, reden von allem Möglichen, von der Schule, gemeinsamen Bekannten, ihren Familien, ihrem Leben. Plaudereien und Witze wechseln sich mit intensiven Gesprächen über die großen Themen ab, sie unterhalten sich über den Tod und erste Küsse – und über ihre Ängste. Denn auch wenn sie auf der Oberfläche so verschieden sind, die extrovertierte Plaudertasche mit den vielen Freunden und der zurückgezogene einsame Junge mit den Panikattacken: Es kommt nicht von ungefähr, dass sie innerhalb kurzer Zeit Vertrauen zueinander fassen, Geheimnisse teilen. Viele, nicht alle. Warum sie wirklich Hausarrest hat, das kann Ava erst ganz am Schluss erzählen…

 

jaeger und die welt

Sarah Jäger mag keine Schwarz-Weiß-Zeichnungen, keine flachen Figuren. Ihre Charaktere haben immer verschiedene Seiten, werden in ihrer Ambivalenz deutlich. Hat es zunächst den Anschein, als ob Ava die Überlegene und Juri der Hilfsbedürftige ist, so stellt sich bald heraus, dass nicht nur sie den Jungen aus seiner Komfortzone holt, sondern umgekehrt er auch sie. Und dass eigentlich das Mädchen die härtere Nuss ist, zumindest wenn es um Ehrlichkeit und Selbstreflexion geht. Juri ist sich seiner Probleme sehr bewusst, Ava versteckt sie. Er ist es, der offen mit seinen Gefühlen umgeht, sie gibt lange Zeit kaum etwas von sich preis, auch wenn sie ohne Punkt und Komma redet. Bei ihr verschwimmen die Geschichten, die erlebten und die erfundenen, und das sorgt zusätzlich für Spannung.

„Und die Welt sie fliegt hoch“ erzählt von zwei jungen Menschen, die einander dabei helfen, sich ihren Ängsten zu stellen und sie zu überwinden. Juri wird irgendwann sogar ins Freibad gehen und fünf streng verbotene Arschbomben vom Beckenrand machen, und Ava wird vor ihm und vor sich selbst zugeben, dass ihr Selbstwertgefühl doch nicht so unerschütterlich ist: „Aber meine größte Angst ist wohl, dass ich den Leuten zu viel werde.“ Vor allem aber wird sie sich eingestehen, dass ihr Leben als Scheidungskind zwischen zwei Patchwork-Familien doch nicht so unproblematisch und eitel Wonne ist, „eine doppelte Portion zuhause“, sondern dass es sie überfordert.
„Vielleicht ist das auch manchmal ein bisschen anstrengend für mich, so quasi in zwei Leben rumzuflattern - immer mit dem Gefühl: Du musst jetzt genau in die Lücke passen. Aber das kann ich nur flüstern. Kann das nur sagen, weil es dunkel ist. Und ich lösche die Nachricht auch gleich wieder, sobald du sie gehört hast.“ Juris Antwort ist in seiner Empathie auf dem Punkt: „Ich denke/das ist ok /was du fühlst /Und was du fühlst/das kannst du nicht löschen.“

Um in einem ausschließlich aus einem Dialog bestehenden Text den Spannungsbogen zu halten, die Handlung voranzutreiben und die Figuren lebendig zu gestalten, braucht es stilistisches und sprachliches Können. Sarah Jäger verfügt darüber. Und über das erzählerische Feingefühl, auch komplexere Themen nicht schwermütig herüber zu bringen – ein Gesamteindruck, der von der Präsentation als Text-Bildhybrid in einem sehr luftigen Layout nur unterstützt wird.

In der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion ist immer wieder die Rede davon, dass die gegenwärtige Jugend von Pandemie, Krisen und Umbrüchen geprägt ist und sie darauf vermehrt mit Angst reagiert. Sarah Jäger greift in ihrer Freundschaftsgeschichte diese Thematik unprätentiös auf und setzt Ängste, die aus einer Weltbetrachtung im Allgemeinen resultieren, mit individuellen Herausforderungen und Sorgen in Verbindung.
Dass in unserer Welt alles durcheinander fliegt und man manchmal den Eindruck hat, sie könne jeden Augenblick explodieren, wird hier nicht klein geredet. Aber dass man besser in ihr Halt findet, wenn man miteinander ehrlich redet und gemeinsam Lösungen sucht, davon erzählt dieses Buch auch.

Karin Haller