Sarah Crossan: Toffee

Wie Glücklichsein von außen aussieht.

Aus dem Englischen von Beate Schäfer. München: Hanser 2023. 352 S. € 19,60. ISBN-13 978-3-446-27593-5

„Ich bin ein junger Mensch, der vergessen will. / Marla ist ein alter Mensch, der sich zu erinnern versucht.“

Verschiedener können sie kaum sein, auf den ersten Blick zumindest, die sechzehnjährige Ich-Erzählerin Allison und die alte, demente Marla in Sarah Crossans außergewöhnlichem Jugendroman „Toffee. Wie Glücklichsein von außen aussieht.“
Ein Zufall hat die jugendliche Ausreißerin in das Haus der alten Frau geführt, in dem sie sich versteckt. Keiner würde Marla glauben, wenn sie von einer Mitbewohnerin erzählt. Und Allison hat die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen und der Umwelt etwas vorzutäuschen, ohnedies perfektioniert.

Das musste sie auch. In ihren Rückblicken erinnert sie sich daran, wie ihr Vater sie seit Jahren schwer misshandelt, die Mutter ist kurz nach Alisons Geburt gestorben. Es ging immer darum, ihm nicht in die Quere zu kommen – oder die Spuren seiner Gewalt unter langen Ärmeln und Strumpfhosen zu verbergen. Die riesige Brandwunde auf der Wange, mit der ein Bügeleisen sie gezeichnet hat, lässt sich nicht mehr verstecken…

Sie kommen sich tastend nahe, die alte und die junge Frau, kochen gemeinsam, tanzen, kümmern sich umeinander. Marla meint, in Allie ihre alte Jugendfreundin Toffee vor sich zu haben, zumindest manchmal, ihre Demenz ist weit fortgeschritten. Doch Allison kann mit Marlas Vergesslichkeit und Verwirrtheit erstaunlich gut umgehen. Das Mädchen, das noch nie in ihrem Leben geküsst wurde, und die alte kranke Frau, die niemand mehr berühren will, sie haben doch einiges gemeinsam. Nicht zuletzt die Gewalttätigkeit eines nahestehenden Familienmitgliedes. Die blinde Aggression von Allies Vater, dieser „Tornado aus Wut und Beleidigungen“, der sich auf psychischer wie physischer Ebene abspielt, korrespondiert mit der Grausamkeit von Marlas Sohn, dessen grobe Gemeinheit seiner kranken Mutter gegenüber nicht minder gewalttätig ist. Hinzu kommt bei beiden, dass es keinen gibt, der wirklich Anteil nehmen würde an ihrem Schicksal. Dass Allison die Misshandlungen ihres Vaters vor Freunden oder Lehrern verbergen kann, liegt daran, dass alle gerne wegschauen: „Ich lüge oft Leute an und beobachte, wie sie sich entspannen, wenn sie sich um nichts weiter kümmern müssen.“

 

crossan toffee

Sarah Crossan zeichnet zwei Frauen, um die sich niemand kümmern will. In der Figur von Allison lesen wir das bewegende Psychogramm eines misshandelten Kindes, das sich nicht gegen den Erwachsenen wehren kann und in ihrer Abhängigkeit um ihr Überleben ringt, verzweifelt um seine Zuneigung kämpft: „Manchmal klammerte ich mich an das Nette, weil mir das Schreckliche vollkommen unmöglich vorkam. Manchmal vergaß ich, dass mein Vater war, wie er war, deshalb hatte ich ihn lieb.“
Nicht weniger überzeugend gelingt der Autorin die Darstellung von Marlas Demenzkrankheit in ihrer widersprüchlichen und herausfordernden Vielschichtigkeit, ohne Beschönigungen oder Verharmlosungen, aber auch voll liebevollem Verständnis, mit dem Marlas sanfte, lustige Seiten in den Blick genommen werden.

Was dieses Buch lange nachhallen lässt, ist seine formale Umsetzung: Es ist in lyrischer Prosa geschrieben. Kunstvoll strukturiert, rhythmisch gestaltet, eine Aufeinanderfolge von mit Versalien übertitelten und in Strophen gegliederten Gedichten, die nicht an Reime gebunden sind. Die Länge ist sehr unterschiedlich, es gibt Passagen, die über mehrere Seiten hinweg reichen, und dann wieder Sequenzen, in denen sich auf einer Seite nur wenige Zeilen finden:
„GEZEICHNET
Ich tippe / mit den Fingerspitzen / auf meine/Wange.
Sie ist immer noch heiß.“

Beate Schäfers Übersetzungsleistung ist herausragend, rund und eindrucksvoll-bildstark. „Toffee“ ist einfach schön zu lesen, auch wenn oder vielmehr gerade weil die Lektüre so betroffen macht. Genau darum geht es ja: Sich auseinanderzusetzen. Hinzuschauen. Und sich zu kümmern, auch wenn es anstrengend ist.

Karin Haller