Meg Rosoff: So lebe ich jetzt

Manche Geschichten können einen so überraschen, dass man sie vom ersten Moment an dafür liebt. Meg Rosoffs Debütroman „So lebe ich jetzt“ ist eine solche Geschichte.

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
Hamburg: Carlsen 2005


Manche Geschichten können einen so überraschen, dass man sie vom ersten Moment an dafür liebt. Meg Rosoffs Debutroman „So lebe ich jetzt“ ist eine solche Geschichte.

Zunächst glaubt man, eine klassische Familienerzählung mit einem Schuss jugendlicher Selbstfindung vor sich zu haben: Die 15jährige New Yorkerin Daisy wird nach England abgeschoben, zu ihren Cousins Edmont, Piper, Isaac und Osbert. Alle ein bisschen sehr anders. Diese Familie – „das größte Lager von magischen Außenseitern“ - hat zur Natur, zu Gefühlen und Gedanken, der feinstofflichen Ebene sozusagen, eine ganz besondere Beziehung. Sie sind Empathen, Tierflüsterer, alterslose Kinder. Dass sie die meiste Zeit über auf sich allein gestellt sind, stört niemanden.

Schon gar nicht Daisy, die aufgehört hat, sich über irgendetwas zu wundern oder gar schockiert zu sein. Auch nicht darüber, dass sich zwischen Edmont und ihr sehr schnell eine Liebe jenseits von Maß und Vernunft entwickelt, eine Obsession, die aufregend und neu, verwirrend und wunderbar ist. Das Mädchen erlebt erstmals, was eine Gemeinschaft ist, wie sich Glück anfühlt: „Und wenn es in der Geschichte der Zeit jemals einen schöneren Tag gegeben hat, weiß ich jedenfalls nichts davon.“

Und dann explodiert mitten in einem großen Londoner Bahnhof eine Bombe. Man stutzt, blättert vor zum Impressum, wann wurde das Buch geschrieben? Im Original 2004. Manche nachträglichen Übereinstimmungen zwischen Fiktion und Realität sind fast beklemmend.

Noch über einige Kapitel hinweg lässt Meg Rosoff den Leser im Ungewissen, was da jetzt eigentlich los ist, denn die auf das Attentat folgende Besetzung Englands geht zunächst an den ziemlich abgeschieden lebenden Kindern vorbei. Es ist ihnen egal, sie sind zusammen, es geht ihnen gut. Bis die Harmonie sich in ihr schlimmstes Gegenteil verkehrt. Im ganzen Land bricht Chaos aus, die Kinder werden voneinander getrennt und Daisy muss gemeinsam mit der kleinen Piper ums nackte Überleben kämpfen.

Unversehens ist das Buch zu einer beklemmenden Anti-Utopie gegen den Krieg geworden: ein Krieg, in dem der „Feind“ namenlos bleibt. Weder Nationen noch Religionsgemein-schaften oder sonstige Gruppierungen werden benannt, und es werden auch keinerlei Hinweise gegeben, die diesbezügliche Interpretationen zuließen. Es geht nicht darum, wer der Gegner ist. Es geht darum, wie sich Menschen in Extremsituationen verhalten. Wozu sie fähig sind.

Obwohl das Buch nicht in der aktuellen Tagespolitik verortet ist, vermittelt es doch überdeutlich, wie sich Flucht anfühlen muss:

Die beiden Mädchen durchleben eine wochenlange Odyssee voller Hunger und Gewalt, werden Zeuge von Morden, finden Häuser voller Toter, kommen an ihre physischen und psychischen Grenzen. Daisys Motor zum Weiterkämpfen ist die Verantwortung für Piper und ihre Liebe zu Edmont. Doch ihr Überleben wird nicht mit dem ersehnten Wiedersehen belohnt: Ihr Vater holt sie gegen ihren Willen nach Amerika; erst sechs Jahre später kann sie zu ihrer wahren Familie nach England zurückkehren. Zu Edmont, der nach traumatisierenden Erlebnissen im Krieg schwer gestört ist – noch. Kein Happy End, aber eine Hoffnung darauf.

Geschichten können überraschen. Wenn sie anders sind. Wenn die Autorin ihre Figuren so von der Hand lässt wie Meg Rosoff das tut und ihre Ich-Erzählerin reden lässt, ohne sich einzumischen, ohne Kommentare abzugeben, geschweige denn Wertungen. Über Daisys Magersucht genausowenig wie über ihre inzestuöse Liebe zu ihrem – noch dazu um ein Jahr jüngeren – Cousin. Man würde nicht auf den Gedanken kommen, ihr helfen zu wollen.

Cover
Der wohltuend unpädagogische Zugang macht sich nicht zuletzt in Daisys zynisch – lakonischer Ironie bemerkbar, mit der sie das Geschehen kommentiert.

„Vor dem Haus ging es langsam zu wie bei Walt Disney auf Ecstacy. Eichhörnchen und Igel und Rehe spazierten in friedlicher Eintracht mit Enten und Hunden und Hühnern und Ziegen und Schafen, und wenn diese ganze Kriegssache irgendwen völlig verwirrte, dann die Tiere.“

Sowenig wie um eine zu vermittelnde Moral schert sich die Autorin um Stilregeln oder darum, dass die wörtliche Rede eigentlich durch Anführungszeichen gekennzeichnet wird. In starker Verdichtung mixt sie Bericht, retrospektiv - reflexiven Kommentar, innere Monologe und Dialoge. Da können Sätze auch schon mal über eine halbe Seite gehen, ohne dass man den Faden verliert.

„So lebe ich jetzt“, nominiert für den Whitbread Award, ausgezeichnet mit dem Guardian Fiction Award“, ist einer der Höhepunkte des heurigen Jugendbuch-Herbstes. Wie gesagt: Manche Bücher liebt man von Anfang an.

Karin Haller