Sarah Weeks: So B. It

„Genau um diese Zeit fand ich […] heraus, dass man noch lange nicht dumm ist, wenn man etwas nicht weiß. Etwas nicht zu wissen heißt nur, dass man noch Fragen stellen kann.“

Heidis Geschichte
Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit
München: Hanser 2005


„Genau um diese Zeit fand ich […] heraus, dass man noch lange nicht dumm ist, wenn man etwas nicht weiß. Etwas nicht zu wissen heißt nur, dass man noch Fragen stellen kann.“ (S. 7)

Und genau das tut die Ich-Erzählerin Heidi im neuen Jugendroman von Sarah Weeks: Sie stellt Fragen. Sie hat auch allen Grund dazu. Mit ihrer geistig schwer behinderten Mutter lebt sie in einer außergewöhnlichen Schicksalsgemeinschaft mit der Nachbarin Bernadette, die unter Agoraphobie leidet, also die Wohnung nicht verlassen kann. Eines Tages, so erzählt „Bernie“, seien sie plötzlich da gewesen, wie vom Himmel gefallen, da war das Mädchen erst knapp eine Woche alt. Heidi kennt weder ihren Geburtstag noch ihren Vater oder sonst jemanden aus ihrer Familie, nicht einmal den Namen ihrer Mutter, die sich selbst „ so be it“ nennt.

„So be it“ – „so sei es“, der Titel des Buches, programmatisch gewählt. Wie das Amen am Ende eines Gottesdienstes, wo nichts mehr hinzuzufügen und nichts mehr zu sagen ist. Worte, mit denen Geschehenes als unveränderlich akzeptiert wird. Denn: „Ob man etwas weiß oder nicht, ändert nichts an der Vergangenheit, so viel steht fest.“

Bis Heidi das erkennt, muss sie jedoch erst ihr Zuhause verlassen und auf eine lange Busfahrt von Reno nach New York gehen, mit dem Ziel, hinter das Geheimnis ihrer Herkunft zu kommen. Endlich zu wissen, was dieses Wort bedeutet, das ihre Mutter immer sagt: „Soof“.

Es gelingt ihr, am Ende sind keine Fragen mehr offen. Happy Endings sehen trotzdem anders aus. Auch wenn man die Wahrheit kennt, geht es einem deshalb nicht immer besser -manchmal ist es okay, wenn Fragen unbeantwortet bleiben.

„So B. It“ erzählt von besonderen Menschen mit besonderen Leben: Von einer klugen älteren Frau, die nach dem Tod ihres Vaters ohnmächtig zusammenbricht, sobald sie die Schwelle ihrer Wohnung übertritt. Von einer behinderten jungen Frau, die keine Buchstaben kennt und keine Zahlen, nur eine Farbe und dreiundzwanzig Wörter.

Von ihrer Tochter, die bei allen Arten von Glücksspielen unfehlbar gewinnt, die nicht zur Schule geht und trotzdem eine persönliche Reife besitzt, die weit über ihr reales Alter hinausgeht: Heidi, die Leit- und Identifikationsfigur des Textes, eine junge Reisende auf der Suche nach sich selbst. Ein Uralt-Motiv, das sich nie abnützt. Vor allem, wenn der Text so viele Ecken und Kanten hat wie „So be it“, so gar nicht rund gespült ist.

Es gelingt Sarah Weeks, die Figuren lebendig werden zu lassen, bis man sie vor sich sieht, so wie das ganze Buch immer mehr zum Film wird, der vor einem abläuft: die weiträumige, voll gestopfte Wohnung, die Tage dauernde Busfahrt, auf der Heidi allen möglichen Menschen begegnet, die Ankunft im Heim für Behinderte, in dem das Mädchen ihre Wurzeln freilegt.

Cover
Es ist ein hart an der Grenze zur Sozialromantik angesiedelter Film, ein sehr amerikanischer noch dazu, Plot, Figuren, Dialoge, Atmosphäre – das alles kommt merklich nicht aus unseren Breiten: von der Übersetzerin Brigitte Jakobeit meisterlich in die deutsche Sprache über-tragen, die so schöne Wörter wie „verstriezelt“ kennt, wenn eine bestimmte Gemütsver-fassung beschrieben werden soll.

Viel Gefühl steckt in dem Text, da darf bei entsprechender Veranlagung am Ende auch schon mal geweint werden, viel Philosophie, schließlich geht es um einige große Lebensfragen wie die nach der Definition und Bedeutung von Wahrheit. Glücklicherweise aber auch Witz, der sich in den Dialogen und besonders in der Figur der „Bernie“ breit macht. Eine Sympathieträgerin erster Güte mit einem „sturen Zug an sich, der sich ihr Rückgrat entlang zog wie der weiße Streifen auf einem Stinktier.“ (S. 74)

Es ist eine Geschichte, die außerhalb der Normalität verläuft, die eigentlich unvorstellbar ist – und trotzdem glaubt man beim Lesen jedes Wort, jeden Handlungsstrang, jede Figur. Weil Wahrheit, besonders die literarische, nicht immer etwas mit Realität zu tun haben muss.

Karin Haller