Davide Morosinotto: Shi Yu

Historischer Abenteuerroman und weibliche Heldengeschichte mit vielschichtiger Hauptdarstellerin

Die Unbezwingbare. Aus dem Italienischen von Cornelia Panzacchi. Stuttgart: Thienemann 2022. 512 S., € 20,60. ISBN-13 978-3-522-20280-0

„Das Mädchen, aus dem eines Tages Die Größte werden sollte, stolperte über einen herumstehenden Hocker.“ Shi Yus Ausgangssituation ist nicht die beste: Als rechtlose Waise in einer Gastwirtschaft schuftend muss sie schon als kleines Kind erfahren, was es bedeutet, in der Hierarchie ganz unten zu stehen. Doch die permanent erlittene Gewalt führt das Mädchen nicht dazu, aufzugeben, ganz im Gegenteil. Sie nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand. Und als sie ihrem Shifu, ihrem Meister, begegnet, verändert sich ihr Leben grundlegend. Der alte Peng unterrichtet sie in einer ganz besonderen Kampfkunst, dem Wushu der Luft und des Wassers“. Es ist eine geheime Technik, die nur wenige beherrschen, die es ihren Meistern sogar ermöglicht, mit blitzartiger Geschwindigkeit zu kämpfen, durch die Luft zu fliegen und über das Wasser zu gehen. Diese außergewöhnlichen Fähigkeiten, gepaart mit unbändiger Entschlusskraft, Mut und Intelligenz machen Shi Yu schließlich sogar zu „Fliegende Klinge“, der größten Piratenkapitänin der Chinesischen Meere – und zum Ziel erbitterter Feinde…. Doch sie überlebt. Bis sie nach vielen Jahren aufhört zu kämpfen und schließlich ihr Erbe an ihre Tochter weitergibt: „Weißt du, seit ich ein Kind war, musste ich immer ums Überleben kämpfen. Kaum hatte ich einen Feind besiegt, da tauchte schon der nächste, mächtigere Feind auf. Irgendwann haben sie damit angefangen, mich Die Größte zu nennen. Ich war stolz darauf, doch mit der Zeit begriff ich, dass der Preis, den ich dafür bezahlte, viel zu hoch war. Deshalb wird damit eines Tages Schluss sein. Ich will nicht mehr Die Größte sein, sondern jemand anderer werden. (…) Die Glücklichste.“

 

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In „Shi Yu. Die Unbezwingbare“ zeichnet Davide Morosinotto die Biografie seiner Protagonistin von ihrem sechsten bis zu ihrem sechsundvierzigsten Lebensjahr nach, angelehnt an die historisch dokumentierte Piratin Shi Yang, die Anfang des 19. Jahrhunderts das Südchinesische Meer beherrschte und sich mit der East India Company genauso anlegte wie mit allen lokalen und internationalen Mächten. Von ihr lässt sich der italienische Autor zu einer weiblichen Heldengeschichte mit einer sehr vielschichtigen Hauptdarstellerin inspirieren.

Die Welt, in der Shi Yu lebt, ist grausam und verzeiht keine Fehler. „Der Starke zwingt dem Schwachen seinen Willen auf, wer sein Gesicht verliert, verliert auch bald darauf sein Leben.“ Dementsprechend ist auch die Heldin des Abenteuerromans nicht zimperlich, weder in der Liebe, in der sie nie ihr Glück finden wird, noch in ihrem Beruf, sie ist schließlich eine Piratin. Wobei ihre Taten im Kontext einer Gesellschaft stehen, in der Korruption und Mord allgegenwärtig waren. So können die Piratinnen und Piraten – und wir begegnen im Text einer ganzen Reihe von ihnen, eine und einer schillernder als die oder der andere – auch die Sympathieträger*innen des Buches sein, ganz im Gegenteil zu den Beamten, die „ihr Leben lang intrigieren, um ihre Macht zu mehren“.

Piraten stehen außerhalb der allgegenwärtigen Hierarchien, sie verkörpern das Prinzip der Freiheit. Nicht, weil sie keine Anführer kennen würden, im Gegenteil muss der Kapitänin blind gehorcht werden, sondern weil sie immer die Freiheit haben, selbst zu wählen. Sie entscheiden, wie lange sie ihr folgen. So wie Shi Yu in diesem Roman eine Vielzahl von Entscheidungen trifft, eine mutiger und riskanter als die andere. Aber sie ist nicht umsonst Vertreterin einer Kampfkunst, die die Energie des Chaos in sich trägt. Die martial-arts Passagen des Romans, in denen man die Heldin an Masten hinauf und über Dächer hinweg fliegen sieht – Ang Lees Film „Tiger and Dragon“ lässt grüßen – fügen sich mit den detaillierten Darstellungen einer uns fremden Landschaft, Zeit und Kultur zu einer Entwicklungsgeschichte mit ganz besonderer Sogwirkung. Da blättert man gefühlt ein paar Mal um, und schon sind fünfhundert Seiten weggelesen.

Auch das Schicksal eines Buches ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig. Einer dieser Faktoren ist, wie sehr die Geschichte seine Leser*innen zu fesseln vermag. Vermutlich ist „Shi Yu“ ein langes und erfolgreiches Leben beschieden. Zu wünschen ist es allemal.

Karin Haller