Sarah Jäger: Schnabeltier deluxe

Ein Neuanfang in der Provinz. "Du vermasselst das nicht", schreibt sich die 15-jährige Kim auf den Unterarm. 

Hamburg: Rowohlt 2022. 208 S., € 20,60. ISBN-13 978-3-499-00911-2

Drei Armlängen. Das ist der Mindestabstand, den Kim zu anderen Menschen braucht, auch zu ihrer Mutter, mit der sie so gesehen „in einer Fernbeziehung lebt“. Sie hat keinen einzigen Eintrag in der Kontaktliste ihres Handys, denn „Freunde sind etwas für andere Menschen, nicht für mich.“ Der letzte Mensch, den sie Freundin genannt hat, war Luca, die bei einem Autounfall vor zehn Jahren starb. Woran sich Kim die Schuld gibt, dabei war sie nicht einmal dabei.

Nun, mit 15 Jahren, ist Kim, die Ich-Erzählerin in Sarah Jägers neuem Jugendroman „Schnabeltier deluxe“ „immer nur ein Problem“. Eine unglückliche, zornige Jugendliche, die etwas demoliert, bevor sie überhaupt darüber nachdenken kann, was sie da tut, vor allem, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt. Als sie die Kaffeemaschine aus dem Fenster des Lehrerzimmers wirft, ist das Maß voll. Sie wird der Schule verwiesen, und eine andere nimmt sie in der Stadt nicht mehr. Das Mädchen wird aufs Land geschickt, zu René, einem Ex-Freund der Mutter, der mit seiner Tante in einem kleinen Dorf lebt. Ein Neuanfang. „Du vermasselst das nicht“, schreibt sich Kim mit orangefarbenem Edding auf den Unterarm. Und gibt sich richtig Mühe. In der Schule, in ihrem neuen Zuhause, wo sie im Bastelzimmer der Tante schläft, im Tankstellenshop.

Dort arbeitet sie am Wochenende, lernt Janne kennen, der den Frisörladen seines Vaters weiterführen soll, dabei kriegt er noch nicht einmal einen geraden Pony hin. Janne ist in so ziemlich jeder Hinsicht Kims Gegenteil. Er trägt grundsätzlich schwarz, sie bunt-schräge Sachen. „Deine Klamotten schreien: Schau mich an“, kommentiert Janne. Was die Ich-Erzählerin irritiert: „Ich dachte, sie würden sagen: Bleib mir bloß vom Leib.“ Er trägt einen roten Haarreifen, sie rasiert sich alle paar Wochen die Haare auf 18 mm Länge. Er redet ohne Punkt und Komma, ihre Wortmeldungen sind reduzierte Punktlandungen. Wo Janne traurig ist, ist sie wütend; wenn er sich zu wenig auflehnt und für seine Bedürfnisse eintritt, ist Kim grundsätzlich im Kampfmodus. Doch bei aller Gegensätzlichkeit finden die beiden Außenseiter – denn auch Janne ist in der dörflichen Enge nicht „normalerweise“ – tastend zueinander. Als Freunde, aus denen vielleicht sogar mehr werden kann, aber das bleibt offen.

 

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Sarah Jäger erzählt uns zwar, wie Kim lernt, punktuell Nähe zuzulassen und sogar als angenehm zu empfinden, aber nicht, wie es weitergeht mit ihr in diesem Dorf und diesem Leben. Die Autorin lässt ihre Figuren so sein, wie sie sind. Kim wird nicht auf zweihundert Seiten durch eine Anti-Aggressionstherapie geschickt, um daraus heil und ganz hervorzugehen wie Phönix aus der Asche. Ob es dem Mädchen nachhaltig gelingen wird, den Autopiloten ihrer Wut besser zu steuern, wird sich weisen. Genauso wie es unklar bleibt, ob Janne aus der vorgegebenen Bahn ausbricht, die ihn unglücklich macht.

Nach „Die Nacht so groß wie wir“ und „Nach vorn, nach Süden“ hat Sarah Jäger auch in ihrem dritten Buch Heldinnen und Helden auf die Bühne gestellt, die gegen den Strom schwimmen und mit aller Kraft darum kämpfen, nicht unterzugehen. Sie sind extrem, ohne es sein zu wollen. Im realen Leben wäre man möglicherweise von einem Mädchen wie Kim überfordert, im Buch liebt man sie. Weil sie klug und warmherzig, reflektiert und witzig ist: „Ich richte zwei Zeigefinger auf ihn und vermute, dass das so ungefähr wie eine Umarmung ist.“ Weil sie selbst am meisten unter ihrer Wut und deren Konsequenzen leidet: „Das schlechte Gewissen hat große Hände, die gegen die oberen Rippen drücken.“

Die im Ruhrgebiet lebende Autorin ist eine Meisterin der Erzählökonomie, besitzt große Klarheit darüber, was ihr wichtig ist. Und das sind, mehr noch als die Handlung, ihre Charaktere, die bis in die letzte Nebenfigur in maximaler Prägnanz auftreten: die schöne Alex, in die Janne und Kim beide mehr oder weniger verliebt sind, der schweigsame Tankstellenbesitzer mit der interessanten Vergangenheit, René, der schwule Ex-Freund der Mutter, seine übellaunige Tante, die Krebs hat. Und der „weiß wirklich, wie man etwas kaputt macht. Dagegen bist du nur eine elende Amateurin.“ Sarah Jäger weiß eben, wie man Dinge auf den Punkt bringt.

Karin Haller