Ingrid Law: Schimmer

Wenn Sie sich eine Fähigkeit jenseits der Naturgesetze wünschen könnten, was wäre es? Fliegen können? Unter Wasser atmen? Unsichtbar sein?

Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister
Hamburg: Carlsen 2008


Wenn Sie sich eine Fähigkeit jenseits der Naturgesetze wünschen könnten, was wäre es? Fliegen können? Unter Wasser atmen? Unsichtbar sein? Mississippi Beaumont, genannt Mibs, stammt aus einer Familie, für die solche außergewöhnlichen Talente Realität sind. Großvater Bomba kann im wörtlichen Sinn Berge versetzen, Momma gelingt einfach alles, der älteste Bruder Rocket ist durch und durch elektrisch geladen und kann schon mal die Stromversorgung einer ganzen Stadt lahm legen und Fish verursacht Wind in allen Stärken bis zum Hurrikan. „Schimmer“ nennen die Beaumonts ihre besonderen Fähigkeiten, und so hat auch Ingrid Law ihren ersten Jugendroman genannt.

Ein „Schimmer“ ist aber nichts, was man sich aussuchen kann – genau am dreizehnten Geburtstag tritt er in Erscheinung, überrascht und will erst langsam unter Kontrolle gebracht werden. Und nun steht Mibs großer Tag bevor, gespannt erwartet sie, was ihr Talent sein wird. Doch da verunglückt ihr Vater schwer, liegt kilometerweit entfernt im Krankenhaus im Koma. Mibs will zu ihm, reißt von ihrer eigenen Geburtstagsfeier aus in der Überzeugung, dass es ihre Begabung ist, andere aufwecken zu können. Genau das, womit sie Poppa jetzt helfen kann. Der rosarote Bus des Bibelvertreters Lester soll sie zu ihm bringen, und mit ihr kommen nicht nur ihre Brüder Fish und Samson, sondern auch – um des Abenteuers willen - die 16jährige Bobbi und deren Bruder Will junior, die keine Ahnung haben, worauf sie sich da eigentlich einlassen. Was folgt, ist Road Fiction vom Feinsten, in deren Verlauf sich unvermutete Freundschaften entwickeln, der schüchterne Lester eine neue Liebe findet und Mibs ihren wahren Schimmer entdeckt, der ganz anders ist als gedacht.

Ingrid Law belebt ihre einfallsreiche Ausgangsidee mit ausgesprochen liebenswerten Charakteren, die einem beim Lesen emotional sehr nahe kommen. Allen voran natürlich die Ich-Erzählerin Mibs auf ihrem holprigen Weg in Richtung Erwachsenwerden, Fish, der seinen Gesprächspartnern mit einem Atemzug die Haare zu Berge stehen lässt, der kleine Bruder Samson, der kaum spricht und sich am liebsten unter Betten und in Schränken verkriecht und dabei alles andere als unglücklich wirkt. Alleinsein und Stille – das ist eben das, was er gerne hat.

Cover
Und letztendlich geht es für alle in diesem Roman darum: Ihre Stärken zu finden und damit umgehen zu lernen. So gesehen wirkt der erst siebenjährige Samson reifer als die Jugendlichen und erwachsener als die Erwachsenen - er ist bei sich angekommen, während alle anderen noch auf der Suche sind.
Auch wenn die Beaumonts sehr spezielle Begabungen besitzen, vermittelt der Text deutlich, dass jeder Mensch ein besonderes Talent besitzt. „Als ich größer wurde begriff ich allmählich, dass ein Schimmer einfach eine andere Art Wissen ist.“ Es muss ja nicht unbedingt ein Niesen sein, mit dem man durch die Zeit reisen kann wie Mibs´ Tante Jules.

Ingrid Law erzählt von Kindern mit magisch anmutenden Fähigkeiten, ohne auch nur ein einziges Mal das Wort „Magie“ zu verwenden. Ihre Schimmer sind keine Zauberkräfte.

„Unsere Familie ist genau wie alle anderen. Wir werden geboren, und irgendwann später sterben wir. Und in der Zwischenzeit sind wir glücklich und traurig, wie empfinden Liebe und Angst, wir essen und schlafen und wir haben Schmerzen wie alle anderen.“ erklärt Momma. Mibs und ihre Brüder sind zwar besonders, aber sie sind keine Superhelden, sondern Menschen. Und so sind auch ihre Gedanken und Gefühle.

Mit „Schimmer“ ist der aus Colorado stammenden Autorin ein mitterweile vielfach preisgekrönter Erstling gelungen, der das Zeug zum Erfolgsbuch hat: Sehr dynamisch und zügig geschrieben, unterhaltsam, glaubwürdig und einfallsreich. Eine der Fähigkeiten von Ingrid Law scheint zu sein, dass sie schreiben kann.

Karin Haller