Antje Wagner: Schattengesicht

Wenn ein Buch damit beginnt, dass die Ich-Erzählerin eine Zelle im Gefängnis bezieht, stellt sich die Frage, wie es dazu gekommen ist.

Berlin: Bloomsbury 2012


Wenn ein Buch damit beginnt, dass die Ich-Erzählerin eine Zelle im Gefängnis bezieht, stellt sich die Frage, wie es dazu gekommen ist. Antje Wagner gibt in ihrem Roman „Schattengesicht“ darauf eine Antwort, indem sie chronologisch rückwärts erzählt, Milanas Lebensstationen von der jungen Erwachsenen bis zum Kind im Krebsgang aufrollt: als Zimmermädchen kurz vor ihrer Inhaftierung, als Referendarlehrerin, als Maturantin, als Siebenjährige, bevor der Text am Ende wieder zur nun knapp Vierzigjährigen ins Gefängnis zurückkehrt. Und an fast jedem Schauplatz gibt es einen Toten – die schikanöse Vorgesetzte im Hotel, den pädophilen Nachbarn in Mannheim, wo Milana unterrichtet, den Vermieter im schwedischen Ferienhaus.

In alle diese Todesfälle ist die junge Frau verwickelt, auch wenn nicht sie selbst die Morde begangen hat, sondern ihre Freundin Polly. Polly, die ihr seit Kindheitstagen zur Seite steht, immer da ist – und mit der offensichtlich irgendetwas nicht stimmt. Die Menschen reagieren mit großem Befremden auf sie, sie verlässt niemals das Haus, geht keiner Arbeit nach. Je weiter die Erzählung fortschreitet, umso klarer wird, dass Polly nicht real ist. Ein „Schattengesicht“, das nur für Milana existiert …

Drei Morde, eine Hauptfigur mit dissoziativer Identitätsstörung, die ständig auf der Flucht ist – da ist für Spannung gesorgt. Die ergibt sich aus der erzählerischen Umkehr der Chronologie wie aus der beliebten Technik, Informationen nur häppchenweise zu verabreichen, Hinweise wie auf einer Schnitzeljagd zu verstreuen. Fragt man sich in einem Kapitel, wer der im Nebenzimmer krank liegende Vincent sein mag und dabei eher an einen Jungen oder Mann denkt, so gibt er sich erst viel später als Kater zu erkennen. Was es mit Polly auf sich hat, lässt sich erst nach und nach entschlüsseln – aufgrund der Reaktionen des Umfelds oder durch das Abkommen zwischen den Mädchen, dass Polly in der Öffentlichkeit nicht sprechen darf.

Die Besonderheit dieses psychologischen Thrillers liegt jedoch nicht im gekonnten Einsatz derartiger Erzähltechniken, sondern in der Glaubwürdigkeit, mit der sich die Autorin an eine multiple Persönlichkeitsstörung annähert. Polly wird als eigenständige Figur für den Lesenden so greifbar und lebendig, wie sie es für Milana ist.

Die eine, Polly, ist die Kreative, Tatkräftige, Furchtlose von den beiden, die andere eher vorsichtig und schüchtern - zwei Pole, die einander ergänzen. Milana sieht sich nicht als gespalten, nicht als psychisch Kranke, Pollys Existenz wird überhaupt nicht in Frage gestellt.

Cover
Alles wurzelt in ihrer Kindheit, der sich das längste Kapitel widmet. Keine traumatisierenden Erfahrungen wie sexueller Missbrauch oder Misshandlung liegen zugrunde, sondern eine existenzielle Einsamkeit, die ein für das Mädchen erträgliches Maß übersteigt. Denn in ihrer Familie ist nichts so, wie sie dachte, ist ihre Mutter in Wahrheit ihre Großmutter und die Frau, die sich als ihre Schwester ausgegeben hat, hat sie zur Welt gebracht. Ihr und dieser Wahrheit, die Milanas Vergangenheit auslöscht, fühlt sich das Kind so ausgeliefert, dass es Hilfe braucht – und Polly auftaucht.
„Meine Mutter ist gar nicht meine Mutter“, flüsterte ich. „Ich bin Inas Tochter. Ich gehöre ihr.“ „Das stimmt nicht“, sagte das Mädchen. „So lange du etwas hast von dem nur du weißt, gehörst du ihnen nicht!“

Antje Wagner erzählt zurückhaltend, reduziert, bleibt durchwegs in der Perspektive ihrer Ich-Erzählerin ohne Schlenker in eine auktoriale Erzählhaltung. Denn sie will nichts kommentieren, dramatisieren, bewerten, nicht die beiden Morde, mit denen ihre Hauptfigur Menschen bestraft, die Unrecht tun, und erst recht nicht die Existenz Pollys. Die ist einfach da, weil sie gebraucht wird. Bis zum Schluss, selbst im Gefängnis, wenn sie kommt, sobald die Stahltür sich schließt. „Denn sie kennen dich nicht, Polly. Sie wissen nichts von dir.“

Im Hardcover ist der Text bereits vor zwei Jahren im kleinen Berliner Querverlag erschienen, Deutschlands erstem lesbisch-schwulem Buchverlag, nun hat ihn Bloomsbury in seiner „All Age“ – Schiene als Taschenbuch herausgebracht und damit auch einem jugendlichen Lesepublikum verstärkt zugänglich gemacht. Die Grenzen zwischen den verschiedenen literarischen Bereichen werden eben immer durchlässiger. Was im Fall von „Schattengesicht“ sehr begrüßt werden kann – spannende und dabei literarisch überzeugende Texte, die junge Lesende zu fesseln vermögen, braucht die Welt.

Karin Haller