Tamara Bach: Sankt Irgendwas

Protokoll einer Klassenfahrt mit unerhörten Begebenheiten

Hamburg: Carlsen 2020
128 S. | € 13,40 | ab 14



„Hast du was gehört von der b?“
„Wieso gehört? Was ist denn passiert, ist was passiert?“
„Auf der Klassenfahrt.“
„Ich hab gehört, dass die jetzt alle verwarnt sind.“
„Wie, verwarnt?“
„Eine ganze Klasse?“

Zu Beginn ihres neuen Jugendromans „Sankt Irgendwas“ stellt sich die vielfach preisgekrönte Berliner Autorin Tamara Bach auf einen Schulhof und lässt die Gerüchteküche brodeln. Die 10 b war auf Klassenfahrt in Kroatien, nee, Italien, jedenfalls irgendwas mit Ruinen und was Heiligem im Namen. Und wenn die ganze Klasse danach zur Elternkonferenz mit der Schulleitung geladen ist, dann muss so richtig was passiert sein. Die haben bestimmt was in die Luft gesprengt. Oder es war was mit Drogen.

Vierzehn Seiten lang hört man den Vermutungen über Hergang und Hintergründe der Ereignisse zu, und dieser Einstieg ist wirklich ausgesprochen lustig. Dabei kümmert sich Tamara Bach nur wenig um etwaige Empfehlungen aus Schreibratgebern – die Schülerstimmen bleiben namenlos und ihre Anzahl aufgrund fehlender Sprechermarkierungen unbestimmt. Noch viel weniger ratgebermäßig als das ist die Tatsache, dass „Sankt irgendwas“ keine Identifikationsfigur anbietet. Die Geschichte bringt nicht eine oder zwei oder drei Erzählerstimmen, was üblicherweise das Maximum in einem Jugendroman darstellt, sondern einige mehr.
Den Romankern bildet das Protokoll besagter Klassenfahrt, das von verschiedenen Schülerinnen und Schülern der 10b – zunächst verordnetermaßen – geschrieben wird: Ein Protokoll, in dem die Autorin ihre schriftstellerischen Stärken voll ausspielt – ihre Pointensicherheit ebenso wie ihre emotionale Nähe zu den jugendlichen Figuren. Das liest sich beispielsweise so:

14.20: Wir müssen zur Stadtmauer. Alle haben Hunger. Frau Kaiser verteilt Müsliriegel und Äpfel.
14.30: Ich bin zu schwach, um zuzuhören. Wer was über die Stadtmauer wissen will, kann das bestimmt auch googeln. WIR GEHEN DIE GANZE STADTMAUER LANG?!?
15.00: Wir gehen die ganze Stadtmauer lang.

cover bach sanktirgendwas

Wiewohl sich die Tageseintragungen zunächst um Sachlichkeit bemühen, kommen mehr und mehr persönliche Kommentare zur Dokumentation hinzu, werden immer ausführlicher, immer kritischer, bis klar ist: Kein Lehrer wird das Heft jemals zu sehen bekommen. Schon gar nicht Herr Utz, der Inbegriff eines unflexiblen, an starren Regeln festhaltenden, pädagogisch ungeeigneten Lehrers ohne jedes Gespür für die ihm anvertrauten Schülerinnen. Obwohl sich diese im Grunde durch geradezu vorbildliches Verhalten auszeichnen, sich ohne Protest an das Alkohol-, Zigaretten und sogar Handyverbot halten, findet Herr Utz immer wieder einen Anlass für Strafsanktionen. Gegen sein Machtgehabe kann auch die verständnisvolle und sympathische Frau Kaiser als Begleitlehrerin nichts ausrichten. Einzig beim Busfahrer, Herrn Keller, blitzt bisweilen der Hang zu Zuwiderhandlungen durch.

Obwohl also das Protokoll gar nicht mehr geschrieben werden müsste, wird es von Ole fortgesetzt, geht in die Tiefe, reflektiert die Ereignisse und vermittelt so
einen plastischen Eindruck von der Dynamik in dieser Klasse, die sich im Lauf der Klassenfahrt verändert und intensiviert. „Ich wusste gar nicht, dass Piet singen kann“, notiert Ole. Oder: „Ich [...] hab mich zum ersten Mal in vier Jahren mit Sarah unterhalten. Ich frage mich, mit wem aus der Klasse ich noch nie geredet habe. Also mehr als "Hast du Mathe" oder so.“

Mit großer Selbstverständlichkeit bekommt man ein Gefühl für diese Klasse in ihrer Gesamtheit, aber auch für einzelne Schülerinnen wie eben beispielsweise Sarah, deren wild gemixte MP3-Playlist mit guter Laune-Musik den Soundtrack der Busfahrt bildet. Man genießt die Situationskomik genauso wie die ruhigeren Passagen, lässt sich von der Frage, was denn nun wirklich geschehen ist auf dieser Reise, durch den nur rund 120 Seiten langen Text ziehen.

Am Ende geschieht etwas, womit Herr Utz nicht gerechnet hat: Als es dann doch zu gröberen Regelverstößen kommt, steht die Klasse einig zueinander. „Alle für alle, sagt dann jemand, leise. Ja. Nicken. Alle für alle. Egal was passiert.“
Solidarität als Prinzip einer Gemeinschaft. Eine Gruppe, die zusammenhält. Sich nicht einschüchtern lässt von angedrohten Konsequenzen. So gesehen bietet „Sankt Irgendwas“ sehr wohl eine Möglichkeit zur Identifikation.

Karin Haller