Jan de Leeuw: Roter Schnee auf Thorsteinhalla

Frischer Schnee über gefrorenen Ackerfurchen, Sterne, die klar wie Eis am Himmel stehen: Es ist kalt in Jan de Leeuws neuem Jugendroman „Roter Schnee auf Thorsteinhalla“. Kalt und rauh und erbarmungslos.

Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Hildesheim: Gerstenberg 2010


Frischer Schnee über gefrorenen Ackerfurchen, Sterne, die klar wie Eis am Himmel stehen: Es ist kalt in Jan de Leeuws neuem Jugendroman „Roter Schnee auf Thorsteinhalla“. Kalt und rauh und erbarmungslos.

Hallgerd, die Tochter eines Wikinger-Jarls, überlebt als Einzige den Angriff des machtgierigen Asmund, der ihre Familie und ihre Halle auslöscht. Jahrelang bereitet sich das Mädchen, das zur schönen jungen Frau heranreift, darauf vor, Rache zu üben. Heiratet, bekommt ein Kind, muss einen neuerlichen Rückschlag hinnehmen, als Asmund ihren Mann tötet und das wiederaufgebaute Thorsteinhalla ein zweites Mal zerstört. In den Bergen schart Hallgerd daraufhin eine Gruppe entlaufener Sklaven um sich, mit nur einem Ziel: Asmund zu vernichten …

Es ist eine dunkle Welt, in die uns der belgische Autor entführt. Hier gibt es keine schönen Gefühle, keine Liebe, Wärme oder Menschlichkeit. Es dominieren der blinde Hass Hallgerds, die Machtgier Asmunds. Menschenleben zählen nichts in dieser Welt, für niemanden. Hallgerd, die als Frau in einer streng patriachalisch strukturierten Ordnung zur charismatischen Anführerin wird, muss die Grausamkeit und Arglist der Männer noch übertreffen, um zu siegen. Es gibt keine ungebrochen positiven Charaktere, auch die Protagonistin ist in ihrer Rachgier, mit der sie nicht nur symbolisch über Leichen geht, etwas zu gewalttätig, um als Identifikationsfigur durchzugehen. Sie ist mehr wie Rachegöttin und Walküre, wie eine mythologische Figur gezeichnet denn wie ein realer Mensch. Der Radikalität und Bedingungslosigkeit ihrer Emotionen kann man sich nur schwer entziehen: Von der ersten Szene an, in der Hallgerd, ein Kind noch, ihre jüngere Schwester beinahe in Brand setzt, weil sie die Walkürensaga nachspielen will. Bis hin zur letzten, bis zum finalen Showdown, in dem die beiden Gegenspieler Hallgerd und Asmund einander gegenüber stehen.

Die Faszination des Textes geht wesentlich von der dichten, homogenen Atmosphäre des historischen Hintergrundes aus. Im Königreich Norwegen ist Anfang des 9. Jahrhunderts unter Harald Schönhaar der Kampf um die Macht unter den Wikingerfürsten in vollem Gang, die Raubzüge an die Küsten Europas sind nicht mehr so einträglich, die Gier nach Macht und Land richtet sich verstärkt gegen die eigenen Reihen.

Cover
Detail- und bilderreich erzählt de Leeuw von dieser fremden, lang vergangenen Welt, von winddurchpeitschten Fjorden, russgeschwängerten, verrauchten Hallen, in denen sich die Menschen auf engstem Raum vor der Kälte zusammendrängen, von Kämpfen, Hierarchien und Abhängigkeiten: „Niemand ist frei, Mädchen, ausgenommen die Irren und die Toten“, erklärt Gudrun ihrer Schwiegertochter Hallgerd. Diese allerdings wird sich ihre Freiheit erkämpfen.

Der Titel „Roter Schnee auf Thorsteinhalla“ entspricht in seiner Plakativität so wie das im Retro-Stil gestaltete Cover dem sprachlich klaren Text, der seine Geschichte nicht mit feiner Klinge ziseliert, sondern auch grausame Szenen in aller Deutlichkeit kühl und distanziert darstellt. Die Handlung ist mitreißend, die Figuren fesselnd, ohne dass man sich als Leser emotional auf eine von ihnen einlassen müsste.

Das hat auch mit dem sehr gelungenen komplexen Aufbau des Buches zu tun: Es erzählt die Handlung aus sieben verschiedenen Perspektiven und verbindet damit sieben verschiedene, auch zeitlich versetzte Erzählstränge miteinander. Auf die Sicht Hallgerds folgen etwa die ihres künftigen Mannes Magnus, ihrer Schwiegermutter Gudrun, ihrer Sklavin Bronwen, und überraschenderweise, auch ihres Gegenspielers Asmund. So kann de Leeuw die verschiedenen Charaktere sehr differenziert schildern, die Handlung über einen langen Zeitraum springen lassen.

Es ist neben der Spannung, der Wucht der dargestellten Emotionen und der historisch dichten Atmosphäre vor allem die erzählerische und inhaltliche Komplexität, die diesen Roman zu einem besonderen Leseerlebnis macht. Der im übrigen gut zur Jahreszeit passt - kalt wird es draußen ja jetzt langsam auch …

Karin Haller