R. J. Palacio: Pony

„Pony“ lässt einen nicht los. Die Spannung der historischen Abenteuererzählung hält von der ersten bis zur letzten Szene.

Wenn die Reise deines Lebens lockt, mach dich auf den Weg. Aus dem Englischen von André Mumot. München: Hanser Verlag 2024. 304 S., € 19,60. ISBN-13 978-3-446-27424-2

„Daran, dass mein Leben voller Rätsel war, hatte ich mich gewöhnt. (…) Dass ich mit einem Begleiter aufgewachsen war, den außer mir niemand sehen konnte, war eines davon. Dass ich Visionen hatte und die Stimmen von Menschen hörte, die nicht mehr am Leben waren, ein weiteres. Dass ich von einem Blitz gezeichnet wurde und davon berichten konnte, weil ich es überlebt hatte, war ein drittes Rätsel.“

Silas, der zwölfjährige Ich-Erzähler in R. J. Palacios neuem Roman „Pony“, wächst im Mittleren Westen des Jahres 1860 zwischen zwei Extremen auf. Da ist einerseits eine ihn umgebende unerklärliche immaterielle Welt, die nur ihm zugänglich ist, und auf der anderen Seite die damals noch außergewöhnliche Welt der Naturwissenschaften, für die sein genialer Vater steht. Ein technisch begabter, experimentierfreudiger Mann, der mit den „Eisentypien“ eine neue Form der Fotografie entwickelt hat. Silas ist offen für beide Teile, für die Wissenschaft wie das Mysteriöse, er akzeptiert auch Unbegreifliches wie die Existenz seines besten Freundes Mittenwool. Der ein sechzehnjähriger Junge und ein Geist ist. Auf der abgeschiedenen Farm kann Silas unter der liebevollen Obhut seines Vaters – die Mutter ist bei seiner Geburt gestorben – wie in einem behüteten Kokon so sein, wie er ist. Bis sich plötzlich ihr Leben für immer ändert.

Eines Nachts tauchen bewaffnete Banditen auf, die den Vater dazu zwingen, sie zu begleiten. Warum, ist unklar. Silas bleibt zurück und verspricht zu warten. Doch am nächsten Morgen steht da ein geheimnisvolles schwarzes Pferd mit strahlend weißem Kopf vor der Tür – und Silas ist überzeugt: das ist ein Zeichen. Er muss seinen Vater suchen. Und so bricht der Junge zusammen mit Mittenwool und „Pony“ – das Pferd wird nie einen anderen Namen bekommen – auf ins Ungewisse. Immer seinem Herzen nach, dem Leitsatz seines Vaters folgend: “Einfach weiter voran“. Es wird eine Reise quer durch die raue Landschaft Ohios, durch dunkle Wälder und gefährliche Sümpfe, auf denen er seinen Feinden begegnen und Freunde finden wird, immer behütet und oftmals gerettet von Mittenwool und dem starken, tollkühnen Pony. Und bei alledem spielt die Vergangenheit seiner Eltern mit all ihren Geheimnissen eine größere Rolle, als Silas ahnen kann.

 

palacio pony

Dass die New Yorker Autorin R.J. Palacio über ein besonderes Erzähltalent verfügt, hat sie schon mit „Wunder“ bewiesen. Ihr 2013 auf Deutsch erschienenes Debut wurde in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt und vier Jahre später verfilmt.

Auch „Pony“ lässt einen nicht los. Die Spannung der historischen Abenteuererzählung hält von der ersten bis zur letzten Szene, sehr geschickt nutzt Palacio die Struktur – Silas erzählt neun Jahre später von den Ereignissen – um Andeutungen klug zu platzieren, ohne zu viel zu verraten. Handlung und Figuren sind bis in die kleinsten Details durchdacht. Der Spagat zwischen der realen, aktionsgeladenen Historie des sogenannten „Wilden Westens“ und einer darin verwobenen mystischen unerklärlichen Ebene gelingt durch die klare, intensive und dabei sehr unaufgeregte Sprache. Gleichzeitig erfahren wir viel über die Entwicklung der Fotografie, die kurioserweise mit dem Entstehen und Anwachsen der amerikanischen Spiritismus-Bewegung Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zusammenfiel. Die historisch versierte Autorin präzisiert im Nachwort: „Der Aufstieg des Spiritismus wurde begünstigt von der gängigen Praxis, mit wissenschaftlichem Vokabular auszudrücken, was allgemein als unerklärbar angesehen wurde.“ Historisches kann sehr zeitgemäß sein.

Die Erzählung strahlt eine atmosphärische Dichte aus, zu denen die den Kapiteln vorangestellten Daguerreotypien hervorragend passen. Alte Fotografien, die die Autorin zu ihren Charakteren inspiriert haben. Es ist Palacio gelungen, diese namenlosen Menschen zu sehr lebendig wirkenden literarischen Figuren auszugestalten, allen voran der außergewöhnliche Silas. Der liebenswerte, klug-naive Junge kann, anders als andere Menschen, über das Erwartbare hinaussehen, wodurch er intuitiven Zugang zu dem Wissen hat, dass alle Menschen in Verbindung miteinander stehen, über die Zeit und den Tod hinaus. „Die Menschen denken einfach nicht so. Wenn sie einander begegnen, fragen sie sich nicht: Haben sich unsere Vorfahren gekannt? Haben Sie vielleicht gegeneinander gekämpft? Haben Sie einander geliebt? (…) Nur der Himmel weiß, auf welche Weise wir verbunden sind.“

Absolute Leseempfehlung für jedes Alter.

Karin Haller