
Joana Estrela: Pardalita
„Pardalita“ – Spatz auf Portugiesisch – lautet das erste Wort des gleichnamigen Buchs von Joana Estrela – und ist auch der Name eines Mädchens. „Pardalita“. (…) Ich kenne deinen Namen nur, weil in unserer Kleinstadt jeder alles über jeden weiß. So wie die Schulhelferin weiß, dass mein Vater wieder geheiratet hat, und so wie ich jetzt weiß, dass man suspendiert wird, wenn man die Schulhelferin anbrüllt.“ Raquel heißt die Protagonistin, die diese Zeilen niederschreibt. Man kann sie vermutlich einen normalen Teenager nennen: Sie hängt mit ihren besten Freunden ab, sie brüllt eine Erwachsene an, weil die ihr unangemessen nahe kommt, sie beobachtet ein bisschen befremdet, wie sich ihre Mutter mit dem Internet anfreundet und plötzlich Vegetarierin wird. Sie lernt unregelmäßige englische Verben – „Cut Cut Cut“ – schneidet sich selbst die Haare – „Yeah Yeah Yeah!“ – und seit sechs Wochen ist sie mit Miguel zusammen. Pardalita aber, das Mädchen aus der Abschlussklasse, von der sie nur den Name weiß, flattert auch auf den folgenden Seiten nur hin und wieder – etwa im Schulflur – vorbei, bis die beiden Mädchen einander in einer Theatergruppe kennenlernen. „Ich glaube, ich habe dich noch nie von so Nahem gesehen. Du bist schön, Pardalita. Das war´s. Es ist raus. Say Said Said.“ Die Ich-Erzählerin spricht auch diese Worte nicht aus, sondern schreibt sie nur nieder. Sie ist eine Leise und sich ihrer Gefühle keineswegs sicher. Ein bisschen später wird Raquel sich dann mit Pardalita zum Kaffee verabreden. „Wie sehr“, schreibt sie kurz danach, „darf man den Abstand verringern, ohne durchblicken zu lassen, dass man gar keinen Abstand will?“ Wie zurückhaltend, könnte man fragen, darf man eine Liebesgeschichte erzählen, ohne dass sie diesen Charakter verliert? Die portugiesische Autorin und Illustratorin Joana Estrela, die in Brüssel lebt und arbeitet, nimmt zwar die Annäherung der beiden Mädchen als roten Faden, rückt aber diese Beziehung nicht ins Zentrum ihres schon mehrfach ausgezeichneten Buchs, das jetzt in der Übersetzung von Ursula Bachhausen auf Deutsch vorliegt. Dort steht vielmehr die sechzehnjährige Protagonistin: Ihr Alltag und wie sie ihn wahrnimmt, ihre Gedanken zu den Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung, Erinnerungsfetzen aus der Kindheit, das tastende Kreisen um ihre Gefühle zu Pardalita.

Dies alles wird ohne die übliche Spannungsdramaturgie dargestellt, keine Intrigen, keine Krisen, keine Höhe- oder Wendepunkte. Es ist vielmehr, als ob der Blick auf das Leben dieses Mädchens gerichtet wird – und dann eine Zeit lang einfach drauf bleibt. „Slice of Life“ wird diese Erzählform genannt, in Film und vor allem in Manga und Anime spielt sie eine größere Rolle als in der Literatur; besonders in der Jugendliteratur bilden ja oft ein handlungsstarker Plot oder hohe emotionale Ausschläge das Rückgrat eines Textes. Dass der unspektakuläre Alltag einer Jugendlichen einen trotzdem in den Bann zieht, liegt an dem Mix aus Texten und Bildern, in dem er präsentiert wird. Da sind kurze Prosastücke in denen die Protagonistin wie in einem Tagebuch berichtet: kleine Begebenheiten, Gedankenströme, erinnerte Kindheitsmomente aus der Innenperspektive, aber stets mit Distanz. Es ist ein Ausloten des eigenen Lebens mit leiser Erzählstimme. Dazu kommen einzelne Bilder, Bildfolgen oder Comic-Sequenzen, auf denen wir von außen draufschauen. Nirgendwo wirken die Schnitte hart, unaufgeregt geht eins organisch ins andere über: In einer Comic-Strecke diskutiert die Mutter mit den beiden Kindern am Mittagstisch den Geschmack von Rote-Rüben-Bratlingen; in einem kurzen Texteintrag erinnert sich Raquel an das Auto, mit dem sie vor der Trennung der Eltern gemeinsam unterwegs waren; um Raquels Gefühle zu zeigen, als Miguel mit ihr Schluss macht – „War zu erwarten. Ich war echt mies zu ihm. Hurt Hurt Hurt“ – wird ein doppelseitiges Bild, das sie mit einem Handy in der Hand im Bett liegend zeigt, mit einer Textzeile kombiniert: „Ich habe den Flugmodus eingeschaltet, aber es fühlt sich an, als wäre ich ganz unten.“ Die Bilder sind – auf dem iPad mit grobem schwarzem Strich wie mit einem Pinsel gezeichnet – skizzenhaft aber kraftvoll. Manchmal wird man fast filmisch in Raquels Leben hineingezogen, etwa wenn auf einer Serie doppelseitiger Bilder der Blick auf Bewegungsübungen in der Theatergruppe gerichtet und mit jedem Umblättern näher an die Körper herangezoomt wird, bis am Ende nur mehr ein abstraktes Bild schwarzer Striche zu sehen ist. Konkret auf das erzählte Geschehen bezogen ist das Stück, das die Jugendlichen in der Theatergruppe proben: der Mythos von Hero und Leander, den beiden Königskindern, die nicht zusammen kommen konnten. In der letzten langen, über mehrere Seiten bis auf einen Satz textlos dargestellten Szene des Buches kommen die beiden Mädchen in Lissabon am Fluss zu sitzen. Pardalita wendet sich in einer knappen Bewegung zu Raquel und fragt, ob sie ihretwegen über den Tejo schwimmen würde … So wird dieses an jeder Stelle intensive Porträt eines normalen Teenagers in einer Kleinstadt, in der jeder alles über jeden weiß, dann doch noch eine Liebesgeschichte.