Nelson Blake: Paranoid Park

Wie geht man mit einer Schuld um, von der niemand etwas weiß, die einem selbst aber permanent präsent ist? Wie mit einem Geheimnis, das man niemanden anvertrauen kann?

Übersetzt von Heike Brandt
Weinheim: Beltz & Gelberg 2008


Wie geht man mit einer Schuld um, von der niemand etwas weiß, die einem selbst aber permanent präsent ist? Wie mit einem Geheimnis, das man niemanden anvertrauen kann?

„Das ist das Ding mit Geheimnissen, sie machen einen verrückt. Wirklich wahr. Sie isolieren dich. Sie trennen dich von deinem Stamm. Irgendwann zerstören sie dich.“

Damit der 16jährige Ich-Erzähler Alex in Blake Nelsons neuem Jugendroman „Paranoid Park“ von seinem Geheimnis nicht zerstört wird, schreibt er es sich – Monate später – in einem langen Brief von der Seele. Einer Adressatin, deren Identität sich erst nach und nach enthüllt, erzählt er von seinem Leben in der amerikanischen Mittelschicht Portlands, dessen Normalität an dem einen Abend des 16. September endet: Wie er gemeinsam mit einem anderen Jungen auf einen fahrenden Zug aufsprang, von einem Wachmann brutal attackiert wurde, wie er sich mit dem Skateboard zur Wehr setzte, der Wachmann auf die Schienen fiel und vom Zug gerädert wurde, zweigeteilt auf den Gleisen lag.

Diesem Bild ist Alex ausgeliefert. Diesem Bild und dem Wissen, dass nichts mehr ist, wie es war: „Ich hatte mir mein ganzes Leben versaut. Mit einer falschen Bewegung hatte ich mir jede Möglichkeit verbaut, ein normales Leben zu führen. […] Was immer ich war, was immer ich hätte sein können, ich hatte es verspielt.“

Unfähig, sich jemandem anzuvertrauen, lebt er ein Leben, in dem er mehr Zuschauer als Akteur ist, auch wenn er nach außen hin funktioniert. Nichts kann ihn mehr berühren oder für längere Zeit ablenken. Das Zusammensein mit den anderen Jungs hat ebensowenig Bedeutung wie Beziehungen zu Mädchen, die er apathisch über sich ergehen lässt – nichts hat mehr Bedeutung. Nur noch das, was passiert ist. Der Unfall, der Totschlag, der Mord. Seine Schuld, seine Sühne.

Sein innerlicher Rückzug wird zwar wahrgenommen, aber auf die eben erst vollzogene Trennung seiner Eltern geschoben. Dabei kreisen seine Gedanken nicht um deren Scheidung, sondern nur um die Frage, was er tun soll, was „das Richtige“ ist - ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Früher, da konnte er einfach leben, Dinge tun, ohne großartig darüber nachzudenken: mit Freunden skaten, auf Partys herumhängen, fernsehen, zur Schule gehen.

Cover
Jetzt passiert gar nichts mehr „einfach so“, jetzt achtet er genau darauf, was er sagt und tut, hat sich immer unter Kontrolle. In Gegenwart anderer fühlt er sich nicht mehr wohl. „Es war, als wäre aus meinem Leben ein richtig harter Job geworden.“

Sein Geheimnis zu bewahren, vor Eltern, Freunden oder dem ermittelnden Kriminalbeamten, wird zur Lebensaufgabe, und er wird es weiter hüten. Seine Beichte in Briefform wird er nicht abschicken, aber durch das Schreiben ist seine Last ein wenig leichter geworden, hat er begriffen, dass es da noch jemanden gibt, der auf seiner Seite ist, wenn er es zulässt. „Das reicht, um bei Sinnen zu bleiben.“ Und mehr verlangt er nicht mehr. Was weiter passiert – er weiß es nicht.

Nelson Blake setzt den „Paranoid Park“ als zentralen Angelpunkt der Erzählung, eine illegale Skateranlage, die für den Protagonisten zunächst den Reiz des Gefährlichen und Verbotenen verkörpert und schließlich zur Verortung seines persönlichen Dramas wird. Im „Paranoid Park“ gibt es keine Regeln - so wie er keine Regeln, keine Orientierungslinien dafür findet, wie er sich nach diesem 16. September, der sein Leben in zwei Teile zerrissen hat, verhalten soll.

Zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, setzt die Ereignisse in Gang, und es ist ein schnelles Tempo, das der Autor anschlägt. Die Getriebenheit und Rastlosigkeit des Jungen dringt durch die Atemlosigkeit seiner kurzen, knappen Sätze, seine Angst und seine Verzweiflung werden in den inneren Monologen und Reflexionsspiralen deutlich.

„Paranoid Park“, nach dem umstrittenen „Cool Girl“ die erst zweite deutsche Übersetzung des in New York lebenden Autors, ist aus einem Guß, spannend, mit Tiefgang, dramatisch und episch zugleich. Und wer möchte, kann sich nach der Lektüre auch noch die 2007 in Cannes mit dem Sonderpreis ausgezeichnete Verfilmung von Gus van Sant ansehen. Beides auf höchstem Niveau.

Karin Haller