Faiza Guène: Paradiesische Aussichten

„Cité du Paradis“ heißt die Betonsiedlung in den Pariser Banlieus, in denen die fünfzehnjährige Doria lebt. Ausgerechnet. Ihr Leben verläuft natürlich alles andere als paradiesisch ...

Aus dem Französischen von Anja Nattefort
Hamburg: Carlsen 2007


„Cité du Paradis“ heißt die Betonsiedlung in den Pariser Banlieus, in denen die fünfzehnjährige Doria lebt. Ausgerechnet. Ihr Leben verläuft natürlich alles andere als paradiesisch: Der Vater hat die Familie verlassen und ist zurück nach Marokko gegangen, der Verdienst der Mutter als Zimmermädchen reicht hinten und vorne nicht, Kleider gibt es aus der Altkleidersammlung, Freundinnen deshalb keine. Reden kann die Einzelgängerin nur mit der Psychologin, zu der sie von der Schule auf Krankenkassen-Kosten geschickt wird, und mit dem zehn Jahre älteren Hamoudi, der einen Joint nach dem anderen raucht und Rimbaud – Gedichte zitiert.

Doria hat es sich in einer selbstironisch - trockenen Lakonie bequem gemacht, mit der sie den Lehrern, Mitschülern oder den Sozialarbeitern, die sich bei ihnen die Türklinke in die Hand geben, begegnet. Sie ist abwehrend und distanziert, und doch voller Sehnsüchte und verschlungener Gedankengänge, in die Fernsehserien und Gameshows als unverzichtbare Bestandteile integriert sind.

Es ist der sehr direkte, flapsig ironische Ton, der dem fortlaufenden Monolog der Ich-Erzählerin in Faiza Guènes Jugendroman „Paradiesische Aussichten“ seinen ganz besonderen Biss verleiht. Ohne zu dramatisieren oder zu beschönigen, lässt die Autorin ihre Doria wie in eine Kamera hinein erzählen, und schafft eine durch und durch authentische Sympathieträgerin. Was das Mädchen erlebt, ist nicht gerade das Drehbuch zu einer Komödie, und trotzdem ist sie so gar nicht wehleidig und lässt keinerlei „bonjour tristesse“ – Stimmung aufkommen. Es ist ein liebevoller, anderer Blick auf eine Szenerie, von der man vor allem medial geprägte Bilder im Kopf hat. Bei Guène brennen keine Autos, da verschwindet höchstens mal der neue Opel Vectra der Sozialarbeiterin.

Doria endet weder im Drogenhandel noch in der Prostitution, sondern beginnt – gezwungenermaßen, aber dann gar nicht so ungern – eine Friseurlehre. Und Nabil – dem sie ihren ersten unfreiwilligen Kuss zu verdanken hat, ist vielleicht doch nicht so ganz unausstehlich. Ihre Mutter besucht einen Alphabetisierungskurs, findet eine neue Arbeit und neues Selbstbewusstsein.

Cover
Der Erstlingsroman der erst zwanzigjährigen Autorin wurde in Frankreich zum Bestseller; in der Originalausgabe unter dem Titel „Kiffe kiffe demain“, was im Arabischen soviel wie „morgen – immer das gleiche“ bedeutet. Auch bei seinem Erscheinen in der deutschen Übersetzung von Anja Nattefort erreichte er großes mediales Echo - die französischen Unruhen im November 2005 lagen noch nicht allzu lange zurück.

Der Text verdient nachhaltige Aufmerksamkeit aber auch jenseits irgendeines Aktualitätsbezuges. Es ist ein literarischer Glücksfall, das Leben in den Pariser Vororten so frech, witzig und unsentimental zu beschreiben, ohne jemals in Oberflächlichkeit oder Teilnahmslosigkeit abzudriften. Faiza Guène, die selbst aus einer algerischen Einwandererfamilie stammt und in einer berüchtigten Hochhaussiedlung in Pantin bei Paris aufgewachsen ist, thematisiert zwar deutlich die Wut und Frustration und die Probleme derjenigen, die in den Randbezirken europäischer Großstädte gegen ihre Perspektivlosigkeit ankämpfen. Sie erzählt von Zwangsverheiratungen, Bildungsmangel, Arbeitslosigkeit, Ausbeutung. Sie nimmt sich aber die Freiheit, ihr Hauptaugenmerk nicht auf die Themen „Gewalt“ oder „Aussichtslosigkeit“ zu legen, sondern letztendlich auf Hoffnungen, Chancen und Ziele zu fokussieren.

„Ich will noch eine Menge mehr. Es gibt noch viel zu tun… He, das bringt mich auf eine Idee. Ich könnte in die Politik gehen. Von der Friseurlehre zur Präsidentschaftswahl ist es nur ein kleiner Schritt.“ Das meint Doria am Ende des Romans. Und irgendwie würde man es ihr sogar zutrauen.

Karin Haller