Elisabeth Steinkellner: Papierklavier

„Papierklavier“ erzählt von weiblicher Pubertät in all ihren Widersprüchlichkeiten, und das in einer formal außergewöhnlichen Form.

Mit Illustrationen von Anna Gusella
Weinheim: Beltz & Gelberg 2020
140 S. | € 15,40 | ab 15


Gefühle lassen sich auf verschiedene Art ausdrücken. Die 16-jährige Maia tut es in Worten und Bildern, hält ihr Leben in einem Tagebuch fest, das auch Skizzenbuch ist. In „Papierklavier“ erhebt Elisabeth Steinkellner zusammen mit der Berliner Illustratorin Anna Gusella durch diese junge Heldin eine starke Stimme für mehr Diversität.

Denn Maia entzieht sich hoch erhobenen Hauptes gesellschaftlichen Normierungen, die herkömmliche Schönheitsideale oder ein traditionelles rollenspezifisches Verhalten vorgeben. Sie trägt Kleidergröße 42, was sie mit einem trotzigen „Und?“ kommentiert. Ohne zu verschweigen: „Bei mir folgt die Rechnung der Logik des Übergewichts: 0 x 6 = immer noch jungfräulich.“ Äußerlichkeiten misst sie keine Bedeutung bei, teuren Dresscodes kann sie abgesehen davon auch deshalb nicht folgen, weil sie schlicht zu wenig Geld dafür hat. Ihre alleinerziehende Mutter tut zwar alles, um sich und die drei Töchter über Wasser zu halten, es reicht aber trotzdem hinten und vorne nicht. Da gibt der Kühlschrank öfter nichts als Licht und Senf her. Seit einem Jahr jobbt Maia zweimal wöchentlich nach der Schule in einem Smoothie-Laden, um etwas zur Familienkasse beizutragen – als Älteste hat sie die Rolle der Ersatzmutter für ihre beiden kleinen Schwestern übernommen.

Cover

Das ist gewiss keine Jugend im Schonraum, doch Maia gelingt es allen schwierigen Rahmenbedingungen zum Trotz, ein geglücktes Leben zu führen. Sie hat sich den Blick bewahrt für „die kleinen Dosen Alltagsglück, die oft nicht mehr als einen Fingerhut füllen“– weil sie nicht allein ist. „Klassenfreak zu sein, ist eigentlich ganz okay. Solange wir in der Mehrzahl sind.“ Was zählt, ist die Qualität und nicht die Quantität von Beziehungen: In ihrer feministisch engagierten Schulkollegin Alex und der etwas älteren Carla, die in der Arbeit und auf der Uni meistens Engelbert ist, hat Maia zwei ausgesprochen starke Freund*innen, die sie stützen, wenn es mal holprig wird, die ihren Blick auf das Positive lenken, wenn sie selbst blind dafür ist. Oder auch umgekehrt, etwa wenn Carla von irgendwelchen Idioten zusammengeschlagen wird.

„Papierklavier“ erzählt von weiblicher Pubertät in all ihren Widersprüchlichkeiten, und das in einer formal außergewöhnlichen Form.
So wie Maia ihre Freundin Alex liebt für deren Prinzipien „und die kleinen, feinen Risse, die sie durchziehen“, so ergibt auch das Tagebuch erst dann ein vollständiges Bild, wenn man die wie in Handschrift gesetzten Worte zusammen mit den Zeichnungen betrachtet. Der präzise formulierte Text bleibt in seiner Emotionalität vordergründig eher zurückhaltend, während die wild anmutenden schwarz-türkisen Kreideillustrationen und Schriftzüge viel Raum in Anspruch nehmen, Seitengrenzen sprengen, Maias Gefühle mit einer vielgestaltigen, lauten Bildsprache in starke Emotionen übersetzen.

Es ist eine wohltuende Abwechslung, eine jugendliterarische Protagonistin vor sich zu haben, die zwar Außenseiterin ist und durchaus auch mit ihrer Familiensituation, Geldknappheit oder ihrem Übergewicht hadert, aber nicht end- und trostlos darunter leidet. Die ihre Ausgrenzung nicht durch Anpassung an die Normen überwinden will, sondern die Normen in Frage stellt. Die Themenvielfalt des Buches – Mobbing, Transgender, Armut, Gendergerechtigkeit, Body Positivity – kommt ganz schön dicht daher. Und doch fügt sich dieses Buch zu einem homogenen Ganzen zusammen, weil die Ich-Erzählerin selbst nicht viel Wind darum macht. Für sie sind es keine „Problemthemen“, für sie ist es einfach ihr Leben. Und auch nicht groß der Rede wert, sich ganz und gar selbstlos um ihre kleinen Schwestern zu kümmern oder auch Extraschichten im Saftladen zu schieben, damit Heidi Klavierunterricht bekommen kann. So wie sie schlagfertig-selbstbewusst bei Jungs mit wortgewandtem Witz die Initiative ergreift, auch wenn sie nicht wie ein Model aussieht. Das ist angesichts des aktuellen Mainstreams ein erfrischend anderer Weiblichkeitsentwurf.

Mit diesem Roman in Wort und Bild haben die beiden Künstlerinnen der emanzipatorischen Jugendliteratur eine neue spannende Nuance hinzugefügt. „Papierklavier“ ist ein Manifest dafür, „sich wohlzufühlen in der eigenen Haut, im eigenen Leben, auch, wenn es nicht der Norm entspricht. Wo, wenn nicht hier. Wer, wenn nicht wir.“

Karin Haller