Björn Stephan: Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau

Eine Jugend im Plattenbau – ein Blick zurück in den Sommer 1994

Berlin: Galiani 2021
352 S. | € 22,70



Es ist alles eine Frage der Perspektive. Mit dem Abstand zum Objekt ändert sich die Wahrnehmung des Betrachters. Näheres erscheint größer, Entferntes kleiner. Auch in der zeitlichen Distanz zu Erlebnissen scheinen sich diese verwandeln zu können. In seinem Debütroman „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“ findet Björn Stephan dafür klare Worte: „… die Geschichten, die wir für unser Leben halten. Das, was ihr erzählt, und erst recht das, woran ihr euch in Zukunft erinnern werdet, ist immer etwas anderes als die Wirklichkeit.“

Das ist auch dem 15jährigen Sascha Labuse bewusst, wenn er niederschreibt, was sich zwei Jahre zuvor zugetragen hat, damals, in diesem heißen Sommer 1994. Als Klein-Krebslow sein Zuhause war, der verfallende Plattenbau am Stadtrand: Gelb-weiße Blöcke aus Beton, in eine brachliegende Wiese hineingewürfelt, ein Getreidesilo am Horizont, eine verwitterte Lenin-Statue in der Mitte. Geplant als Vorzeige-Stadtteil, nach der Wende nicht fertiggestellt. Voller Stolz sind sie fünf Jahre zuvor eingezogen, jetzt ist es - für seine Eltern zumindest - ein Ghetto der Übriggebliebenen, in dem nur noch „Assis“ wohnen. Für Sascha jedoch ist es seine ganze Welt: „Damals kam sie mir nicht einmal hässlich vor.“

Noch kennt er nichts anderes, noch will er nichts ändern, weil er alles für unveränderlich hält. Das bleierne Schweigen des Vaters, der seinen Job verloren hat und sich jetzt als Vertreter durchschlägt. Die Dominanz seines besten (und einzigen) Freundes Sonny, dem er sich unterordnet, seit er denken kann. Die Übermacht der Pawelke-Brüder mit ihren Butterfly-Messern und Bomberjacken, vor denen er sich zu Tode fürchtet und tatenlos zusieht, wenn sie einen Mann zusammenschlagen. Es braucht seine neue Mitschülerin Juri, deren Leidenschaft dem Weltraum gehört, damit Sascha seinen Blick weitet. Als er sich in das trotzige, kämpferische Mädchen mit den großen Träumen verliebt, gewinnt er eine neue Perspektive auf sein Leben. Auch wenn die Liebe unerwidert bleiben und Juri für immer verschwinden wird.


stephan weltraum

„Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“ wirft einen Blick zurück auf eine Zeit des Übergangs. Mit dem Untergang der DDR hat sich alles verändert und, für den Ich-Erzähler, doch auch wieder nicht, denn die Menschen sind größtenteils dieselben geblieben.
Als Juri ihm erklärt, dass wir nicht die Gegenwart, sondern die Vergangenheit der Sterne sehen, zieht er die Parallele: „Das alte Land, so kam es mir vor, glich einem dieser Sterne. Obwohl ich es noch sehen konnte, war es lange verglüht.“ (...) „Das Alte war noch da und gleichzeitig war es weg.“

Es ist ein ruhiger, reflexiver Ton, mit dem uns Sascha Labude durch die hundert und zwei Tage führt, die zwischen Juris Auftauchen und ihrem Verschwinden liegen, er passt gut zu der sepiafarben anmutenden Atmosphäre, die den Schauplatz grundiert. Und zu dem Ich-Erzähler selbst, der sich ganz besonders für die Nuancen von Sprache interessiert. Sammelt er doch auch einzigartige Wörter aus anderen Sprachen, für die es im Deutschen kein Äquivalent gibt. Das Wort „onsra“ zum Beispiel, das in Boro – einer in Assam gesprochenen Sprache – das Gefühl beschreibt, man könne nie wieder so sehr lieben wie einst.“ Oder „Hanyauku.“ Was in Namibia bedeutet, „auf Zehenspitzen durch den heißen Sand laufen.“

Immer wieder fügen sich Reflexionen, ja sogar weltanschauliche oder philosophische Exkurse in den Erzählfluss ein, und doch geht die Spannung nicht verloren, die von der Konstruktion des Textes gehalten wird: Der Roman beginnt damit, dass Juri nach dem Tod ihrer Mutter in der seit damals nicht mehr betretenen Wohnung einen Stapel Papier findet: Saschas Aufzeichnungen, die bis zuletzt offen lassen, was bei dieser „Monsterkatastrophe“ geschah, die Juris spurlosem Verschwinden voranging,

Es gelingt dem Autor, die Fragilität von Saschas Welt überzeugend einzufangen, die individuelle Unsicherheit des Erwachsenwerdens mit der Unabgeschlossenheit des gesellschaftlichen Veränderungsprozesses zu verbinden: den Blick auf die großen wie auf die kleinen Zusammenhänge zu richten. Der Grenzgänger zwischen Jugendbuch und allgemeiner Literatur setzt einiges an Leseerfahrung voraus – und ist ohne Alterseinschränkung empfehlenswert.

Karin Haller