
Agnes Ofner: Nicht so das Bilderbuchmädchen
„Zara sitzt im Dunkeln und beobachtet den Jungen von gegenüber dabei wie er weint.“
180 S. | € 15,99
„Zara sitzt im Dunkeln und beobachtet den Jungen von gegenüber dabei wie er weint.“
Mit Kopfsprung hechtet Agnes Ofner in ihrem jugendliterarischen Debüt „Nicht so das Bilderbuchmädchen“ in die Handlung: Die Protagonistin beobachtet ein Zimmer des gegenüberliegenden Hauses, weil sie, schlechtes Gewissen hin oder her, gar nicht anders kann. Nichts weiß sie von diesem Jungen, der erst kürzlich mit seiner Familie dort eingezogen ist. Ganz normale Leute, scheint es, aber wieso weint der so oft? Zara tippt auf Liebeskummer, darüber weiß sie bestens Bescheid, schließlich kommt sie beim täglichen Zählen der Wörter, die sie mit ihrem Klassenkameraden Josef wechselt, nicht über neununddreißig hinaus.
Im Zimmer auf der anderen Seite sitzt Sam und fragt seinen Hund namens Tante Ulli, was er machen soll, damit er nicht zum Schwimmunterricht muss. Was er tun kann, damit sich sein Leben nicht mehr so falsch anfühlt. Und sieht zu seiner Verblüffung im Fenster gegenüber drei Zettel, auf denen in großen Buchstaben „Hallo, ich bin Zara“ steht.
Es dauert eine Weile, bis er reagiert, aber in der Folge entwickelt sich zwischen den beiden Jugendlichen eine ganz besondere Form der Kommunikation. Sie schreiben einander von Fenster zu Fenster stichwortartig von ihrem Tag, geben sich Tipps wie etwa „Lifehacks für ein aufregenderes Leben“, die ziemlich schief gehen. Nie aber unterhalten sie sich von Angesicht zu Angesicht, einen Kontaktaufnahme-Versuch Zaras an der Bushaltestelle wehrt Sam überfordert ab. Dass er nicht wirklich stumm ist, muss er ihr später auf einem Fensterzettel zerknirscht eingestehen.
Abends unterhalten sie sich, tagsüber leben sie ihr Leben getrennt voneinander. Sam kämpft gegen seinen persönlichen Feind Christopher, wobei buchstäblich Blut fließt, und um seine jahrelange Freundschaft zu Sophie, der er immer fremder wird. Zara wiederum durchlebt alle Höhen und Tiefen ihrer ersten Verliebtheit und muss die Beziehung zu ihrer besten Freundin Miriam unter diesen neuen Vorzeichen nachjustieren. Doch während es bei Zara tendenziell bergauf geht – irgendwann braucht sie die Wörter, die sie mit Josef wechselt, nicht mehr zu zählen, und geküsst wird auch – fühlt sich für Sam alles immer schlimmer und auswegloser an. Warum, das enthüllt sich Zara erst am Ende der Geschichte, wenn explizit ausgesprochen wird, was der oder die Lesende mit fortschreitender Lektüre mehr und mehr vermutet.

Der Text springt in den beiden Perspektiven hin und her, oft in sehr schnellem Wechsel, vermittelt beide Figuren als gleichberechtigte personale Erzähler glaubwürdig in ihrer recht unterschiedlichen Sichtweise auf das Leben. Die kluge Konstruktion der Handlung und die Frische der Ausgangsidee ist das eine, die stilistische Finesse des Textes das andere. Einerseits arbeitet Agnes Ofner mit stark aufgeladenen Bildern wie „Einsames Mikrowellenessen macht satt, aber nicht bis ganz nach innen.“ Andererseits überrascht sie, vor allem bei Zara, immer wieder mit Nebensätzen voller Komik und Selbstironie, die Sams Ernsthaftigkeit Humor und Leichtigkeit an die Seite stellen. Besonders komisch wird die sich langsam entwickelnde Beziehung zwischen Zara und Josef dargestellt, bei der nicht nur unterschiedliche Interessen, sondern auch Missverständnisse und Erdnussallergien überwunden werden müssen.
Am Ende werden Zara und Sam einander treffen und miteinander reden, in einem Abstand von nur einem Meter. Die bisherige räumliche Entfernung zwischen den Fenstern war wichtig und gut, hat sie doch wesentlich dazu beigetragen, die Dinge klarer zu sehen und benennen zu können. Aber nun ist etwas Neues möglich: eine Umarmung.