Michael Gerard Bauer: Nennt mich nicht Ismael!

Der vierzehnjährige Ismael leidet: unter seinem Vornamen, der ihn seiner Überzeugung nach zum Versager prädestiniert, und vor allem unter seinem Mitschüler Barry Bagsley ...

Aus dem Englischen von Ute Mihr
München: Hanser 2008


„Call me Ishmael!“ Herman Melvilles erster Satz aus Moby Dick ist berühmt - und Inspirationsquelle für den australischen Autor Michael Gerard Bauer, der sich in diesem Frühjahr mit „Nennt mich nicht Ismael!“ in literarischer Hochstform präsentiert.

Der vierzehnjährige Ismael leidet: Unter seinem Vornamen, der ihn seiner Überzeugung nach zum Versager prädestiniert, und vor allem unter seinem Mitschüler Barry Bagsley: „Am Ende meines ersten Schuljahres in der Highschool hatte Barry Bagsley meinen Namen auf wundersame Weise von Ismael Leseur in Fischmehl Stinkstiefel verwandelt. Und das fasste in etwa zusammen, wie ich mich fühlte.“

Ismael versucht, Barrys Spott zu entgehen, indem er sich praktisch unsichtbar macht – mit zweifelhaftem Erfolg. Bis plötzlich ein neuer Schüler auftaucht. James Scobie, der nach einer Gehirntumor-Operation vor gar nichts Angst zu haben scheint und schon gar nicht vor Barry Bagsley. Der kleine, schmächtige Scobie, dessen Gesicht immer wieder in unkontrollierten Zuckungen entgleist, bietet Ismaels Peiniger die Stirn und gewinnt den Kampf „Barry der Böse gegen James, die Grimasse“ mit Bravour. Barry, dem außer physischer Aggression und gemeiner Ignoranz keine Mittel zur Verfügung stehen, ist dem Intellekt und der herausragenden Eloquenz Scobies hoffnungslos unterlegen. Scobie avanciert zum Helden der Schule, Ismael schwimmt in seinem Fahrwasser mit. Eine andere Zeitrechnung beginnt, und Ismael findet sich sogar im neu gegründeten Debattierklub wieder. Der ihn allerdings deutlich an seine Grenzen führt - der erste öffentliche Auftritt endet mit einem Ohnmachtsanfall im Desaster.

Doch die Ereignisse und die Freundschaft zu Scobie verändern Ismael, und am Ende hat er nicht nur endlich Moby Dick gelesen, sondern auch seine klassische Rolle als Opfer und Versager abgelegt. Mit dem enthusiastischen inneren Aufschrei „Ja, nennt mich Ismael!“ schließt das Buch – da hat einer zu sich selbst gefunden. Und, gewissermaßen als Sahnehäubchen des glücklichen Endes, auch noch zum adorierten Mädchen.

Cover
„Nennt mich nicht Ismael“ erzählt, wie der Autor in seiner Widmung selbst schreibt, von „Freundschaft, Liebe und Lachen“.

Und man lacht viel beim Lesen dieses Buches. Nach einem ein wenig zögerlichen Start bringt es eine skurrile Situation nach der anderen, ausgesprochen witzige Dialoge und Figuren, pointiert, phantasievoll, temporeich. Das Niveau ist hoch, ohne dass der Text an sich schwer verständlich wäre. Plot und Figuren stammen zwar aus dem klassischen kinderliterarischen Repertoire, Humor und Erzählhaltung brauchen aber einen Leser, der den sprachlich-intellektuellen Spielereien gegenüber aufgeschlossen ist und die Ironie auch entschlüsseln kann.

In überzeugenden Bildern schildert der Autor aus dem Mund seines Ich-Erzählers dessen Nöte und Selbstzweifel, lässt einen feigen Loser zum Sympathieträger und zur Identifikationsfigur werden. Charaktere werden mit Minimalaufwand lebendig, innere und äußere Dialoge zum entscheidenden Mittel, um Konstellationen, individuelle Eigenschaften und Befindlichkeiten zu verdeutlichen. Bemerkenswert in der Darstellung der Figuren ist, dass dieses Buch ganz ohne negativ gezeichnete Erwachsene auskommt, sondern Lehrer und – nur marginal vorkommende – Eltern als durchwegs liebenswerte Sympathieträger zeichnet. Ihnen steht wie dem sehr erwachsen agierenden Scobie die Sprache in all ihren doppeldeutigen Facetten als überlegenes Mittel der Interaktion zur Verfügung. Denn Bauer erzählt vor allem auch von der Macht der Sprache – diese zu erkennen und umzusetzen führt Ismael zur Überwindung seiner Ängste und Barrieren.

Das alles wird sehr leicht und ohne jede psychologische Überfrachtung gebracht. „Nennt mich nicht Ismael!“ ist ein Buch, über das man durchaus nachdenken kann, wenn man will, bei dem man sich aber vor allem köstlich amüsiert. Und nachher vielleicht auch Lust darauf bekommt, mal wieder Melville zu lesen.

Karin Haller