
Anna Woltz: Nächte im Tunnel
"Wir drei haben alles überstanden. Die Bomben, die Brände, die Nächte. Wir sind noch da."
Räume können unendlich sein wie das Universum, aber auch strikt begrenzt; Mauern können Schutz bieten, aber auch das beklemmende Gefühl von Enge und Unüberwindlichkeit erzeugen. Die vierzehnjährige Ella macht vor allem die Erfahrung, eingesperrt zu sein. Ein Jahr hat sie mit Kinderlähmung im Krankenhaus in einer eisernen Lunge verbracht, nun muss sie sich mit ihrer Familie nachts in einer unterirdischen Londoner U-Bahn-Station vor den Bomben schützen, zusammen mit anderen fremden Menschen, „wie magere Sardinen in einer kolossalen Büchse“. Um vier Uhr werden die Eingangsgitter geöffnet, und die Schlange stehenden Menschen, vor allem Frauen, Kinder und „hier und dort ein alter Mann mit krummem Rücken und wenigen Zähnen“ können in die Liverpool State Street hinuntersteigen, um für sich und ihre Angehörigen Plätze auf dem Boden zu besetzen. Es ist September 1940 und der Blitzkrieg der deutschen Wehrmacht gegen England hat gerade erst begonnen. Bis Mai 1941 werden hunderttausende Häuser verwüstet und zehntausende Menschen tot sein.
Doch es sind nicht nur Orte, in denen sich das Mädchen wie in einem Käfig fühlt. Die schlimmste Begrenzung stellt ihr eigener Körper dar – infolge der Polioerkrankung hinkt sie. Früher war sie stark und schnell, nun ist sie eine verunsicherte Einzelgängerin mit der Überzeugung, dass alles an ihr falsch ist. Ein „verkrüppeltes Hinkebein“. Sie lässt niemanden mehr an sich heran, nur ihr kleiner Bruder Robbie sorgt dafür, „dass sie das Atmen nicht vergisst.“

Doch alles ändert sich, als Ella die adlige Quintana kennenlernt, ein Mädchen aus einer anderen Welt, das aussieht wie ein Filmstar und Worte wie „formidabel“ verwendet. Quinn ist vom Landsitz ihrer „Eltern aus Stein“ weggelaufen, hat keine Ahnung vom Leben in dieser bombardierten Stadt. Fröhlich, naiv und gutherzig akzeptiert sie Ella ohne Vorbehalte: „Zum ersten Mal seit Monaten spürte ich, dass ich mehr bin als ein verkrüppeltes Bein.“ Quinn ist es auch, die Jay in die kleine Gemeinschaft aufnimmt, den zwielichtigen, gut aussehenden Jungen, der sich scheinbar ohne moralische Bedenken durchs Leben schlägt, um mit vorwiegend illegalen Mitteln Geld zu verdienen. Dass er damit seine Geschwister unterstützt, wird Ella erst später herausfinden, da hat sie sich schon rettungslos in ihn verliebt.
Während über ihnen die Welt zusammengeschlagen wird, verbringen Ella, Robbie, Quinn und Jay im Dunkeln des U-Bahn Tunnels „aus allem herausgefallene Nächte, (…) Stunden ohne Käfige“. Doch die Gemeinschaft wird nicht für immer bestehen: „Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben.“
Mit diesen Worten beginnt die renommierte niederländische Autorin Anna Woltz ihren neuen Jugendroman „Nächte im Tunnel“ – und es bleibt bis zum Schluss offen, wer sterben wird. Doch nicht nur diese Frage fesselt uns Lesende von der ersten bis zur letzten Seite. Es ist die sprachliche Intensität, mit der Anna Woltz ihre Geschichte über eine Jugend im Krieg, erste Liebe, Freundschaft und Zusammengehörigkeit erzählt. Und die Überwindung von Begrenzungen, äußeren wie inneren, in den Mittelpunkt stellt: „Ich darf denken, was ich will, ich darf schreiben, was ich will, ich darf fühlen, was ich will. In meinem Kopf kann niemand Gitterstäbe anbringen, und vielleicht ist das ja genug.“
Eine entscheidende Rolle bei dieser Erweiterung von Räumen spielen einerseits Menschen, die den Käfig einen Spaltbreit öffnen, die Perspektive verändern und verbreitern, so wie das Quinn und Jay für Ella tun. Andererseits sind es Worte, die Grenzen sprengen können. Am Beginn der Erzählung stellen die erfundenen Geschichten, die Ella in ein Heft schreibt, für das unglückliche Mädchen eine Möglichkeit dar, die Enge der stickigen Gleise zu verlassen. Doch je mehr sie erlebt, desto klarer wird ihr, dass sie über „Sachen außerhalb meines eigenen Käfigs“ reden muss, wenn sie Schriftstellerin werden will. Denn „Worte sind keine Flucht. Sie sind, was bleibt.“ Das wird auch dieses Buch tun.