Martha Brooks: Mistik Lake

Familiengeschichten sind wie alte Spiegel: Wenn man hineinsieht, erkennt man sich selbst wieder. Doch es gibt blinde Flecken, in denen man gar nichts sieht, Geheimnisse und Tabuthemen, über die nicht gesprochen wird.

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann
München: dtv 2008


Familiengeschichten sind wie alte Spiegel: Wenn man hineinsieht, erkennt man sich selbst wieder. Doch es gibt blinde Flecken, in denen man gar nichts sieht, Geheimnisse und Tabuthemen, über die nicht gesprochen wird. So eine Geschichte erzählt Martha Brooks in ihrem neuen Jugendroman „Mistik Lake“.

Es ist die Geschichte von Odella, ihrer Mutter Sally und ihrer Großtante Gloria, Frauen aus drei verschiedenen Generationen. Jede mit ihrem eigenen Schicksal, Geheimnissen und persönlichen Tragödien. Gloria, die ihre Homosexualität über Jahrzehnte hinweg nicht zu leben wagt und sich erst im Alter dazu bekennt. Ihre Nichte Sally, eine lebenslustige junge Frau, deren Leben an einem kalten Abend des Jahres 1981 einbricht wie das Auto im Eis des zugefrorenen Sees, als alle außer ihr sterben. Nur einem gesteht sie, dass sie es war, die ihre Freunde zu dieser Mutprobe überredet hat: ihrer großen Liebe Gerald Isfeld, zehn Jahre älter als sie. Sie wird schwanger, heiratet einen anderen, zieht weg aus Mistik Lake, bringt Odella auf die Welt, dann noch zwei Mädchen, versucht ihre Depression mit Alkohol zu bekämpfen und geht schließlich mit einem neuen Mann nach Island. Dort, im Land ihrer Vorfahren, will sie mit einer neuen Familie ein neues Leben beginnen – ein Glück, das ihr verwehrt bleibt. Nur drei Jahre später verunglückt sie tödlich.

Odella, die Ich – Erzählerin, übernimmt früh die Rolle der Mutter, hält die Familie nach Sallys Verlust und nach deren Tod zusammen. Erst als sie sich in Jimmy verliebt, einen Jungen aus Mistik Lake, lebt sie ihr eigenes Leben nach ihren Bedürfnissen und nimmt einen Sommerjob an, ausgerechnet bei Gerald Isfeld. In welcher Verbindung sie zu ihm steht, erfahren wir mit Odella erst am Ende der Erzählung; nach und nach fügen sich die im Text eingearbeiteten Hinweise zusammen.

Brooks erzählt nicht nur aus Odellas Ich-Perspektive, sondern auch aus der ihrer Mutter, ihrer Großtante Gloria und sogar Jimmys, spannt einen weiten zeitlichen Bogen von den 40er Jahren bis zur Jetztzeit. Dabei schafft die 1944 geborene kanadische Autorin das Kunststück, eine komplexe Handlung auf rund 230 Taschenbuchseiten zu komprimieren, ohne oberflächlich zu werden. Wiewohl die jugendliche Odella die hauptsächliche Identifikationsfigur des Textes darstellt, kommen dem Leser auch ihre Mutter und Tante Gloria sehr nahe und bieten die Möglichkeit zu intensiver emotionaler Beteiligung.

Cover
Odella ist, ob sie es will oder nicht, in ihr Familienschicksal eingebunden, hat die Konsequenzen verschwiegener Wahrheiten zu tragen. Ein Schicksal, das unauflöslich mit dem titelgebenden See verwoben ist. Der Mistik Lake ist mehr als nur Handlungsschauplatz, er ist Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Ein Ort, der für jede der drei Frauen seine eigene Bedeutung hat: Für Odella ist er der Platz, an dem sie als Kind glücklich war und zu dem sie sich hingezogen fühlt. Für die Mutter Mahnmal ihres Unglücks. Für Gloria Erinnerung an ungelebte Möglichkeiten, der sie ausweicht.

Brooks braucht wenig Worte, um eine dichte erzählerische Atmosphäre zu erzeugen. Da spielen Träume eine große Rolle, knappe, aussagekräftige Dialoge, Metaphern und Naturschilderungen. Gefühle werden ohne Gefühlsduselei deutlich gemacht, warm und kühl gleichzeitig. Es geht in diesem Buch ja auch ganz wesentlich um die Liebe: um die der Kinder zu ihrer Mutter, die bei aller Kompliziertheit ungebrochen ist. Um die Liebe Sallys zu ihrer Familie, die glaubhaft und wahrhaftig bleibt, auch wenn die Frau keine andere Möglichkeit sieht, als Mann und Kinder zusammen mit ihrem verlogenen Leben hinter sich zu lassen. Um die intensive Beziehung der drei Geschwister zueinander, die in kleinen nachdrücklichen Szenen präsent wird. Um die erste Liebe zwischen Odella und Jimmy, die so bedingungslos und intensiv ist wie erste Lieben eben sein können.

Erzählt wird von Liebe, Trauer,Verlust, und – von Neuanfängen. Die werden in „Mistik Lake“ möglich, wenn Verschwiegenes ausgesprochen wird und Geheimnisse nicht länger unbewusst präsente Last bleiben. Wenn die blinden Flecken im Spiegel verschwinden.

Karin Haller