Martina Wildner: Michelles Fehler

Manchmal scheint im Leben alles schief zu laufen. Wie bei der vierzehnjährigen Hauptdarstellerin in Martina Wildners neuem Jugendroman „Michelles Fehler“.

Berlin: Bloomsbury 2006


Manchmal scheint im Leben alles schief zu laufen. Wie bei der vierzehnjährigen Hauptdarstellerin in Martina Wildners neuem Jugendroman „Michelles Fehler“.

Viel zu klein für ihr Alter, zu dick außerdem, ist sie beliebtes Ziel für den Spott und Terror ihrer Klassenkameraden, vor drei Monaten hat der Vater die Familie verlassen. An so einer Misere kann man sich selbst die Schuld geben, den anderen, dem Schicksal. Michelle hat sich für die erste Variante entschieden: „Niemand, dachte Michelle und kroch unter ihr Bett, niemand auf der ganzen Welt macht soviele Fehler wie ich.“

Doch die Autorin weiß es besser als ihre Protagonistin. Es ist nämlich weder Eigen-verantwortung noch undurchsichtiges Schicksal, was uns Menschen in diesem Buch umtreibt, sondern das Fehlerberechnungsamt, in dem höchst menschliche Schutzengel als Sachbearbeiter tätig sind. Und mit den für sie zuständigen Beamten hat Michelle dummerweise ziemliches Pech. Jahrelang wurde sie von einem manipulationssüchtigen Chaoten mehr verschlampt als betreut, und dementsprechend sieht ihre Existenzbescheinigungskarte auch aus: vom Kartenfraß zerfressen. Was natürlich fatale Auswirkungen auf die betroffene Person hat. Mit ihrem neuen Schutzengel, Sachbearbeiter Schmidt, kommt das Mädchen aber leider vom Regen in die Traufe: Schmidt hasst Jugendliche. Und tut nichts, um Michelle zu unterstützen – ganz im Gegenteil.

So gerät sie in einen Strudel aus Schuleschwänzen, Sachbeschädigung, Diebstahl und Flucht, der als „Fehlerkette“ rot auf Schmidts Bildschirm aufleuchtet. Und der macht sich einen Spaß daraus, zusätzlich noch die Tastenkombination für „plötzliche Stimmungsverschlechterung“ zu drücken. Erst in allerletzter Minute, als es für Michelle buchstäblich um Leben und Tod geht, fliegt Schmidt auf und seine Eingriffe und Manipulationen kommen zum Stillstand. Jetzt kann sich alles wieder zum Guten wenden.

Die junge deutsche Autorin Martina Wildner, die für „Jede Menge Sternschnuppen“ 2003 den Peter Härtling – Preis erhielt, hat mit „Michelles Fehler“ einen vor allem in formaler Hinsicht bemerkenswerten Text vorgelegt.

Ein einziger Tag bildet den Erzählrahmen, der sich in einzelne Teile mit exakter Uhrzeit und Angabe des begangenen Fehlers als Überschrift gliedert: 7.23: Verschlafen, 7.43: Nennung des falschen Namens, 7.44: Erröten. Exakt 85 Stationen analog zu den Aufzeichnungen aus Schmidts Dokumentation.

Wildner verschränkt die Erlebnisse Michelles mit den Ereignissen im Fehlerberechnungsamt, kreuzt die Perspektive des Mädchens mit der von Sachbearbeiter Schmidt. Zusätzlich durchbricht die Autorin die laufende Chronologie mit Rückblenden – dem Trennungsbeschluss der Eltern, Vaterbesuche, Schulbälle.

Cover
Die Strukturiertheit des Textes entspricht der Figur der Michelle, die alles und jedes zählt und ausmisst: ihre Schritte – Entfernungen werden grundsätzlich in der Anzahl von Schritten angegeben – Geschwindigkeiten, die Größe von Pflastersteinen. Nur in dieser analytischen unemotionalen Betrachtungsweise findet sie Orientierung in einer Welt, in der sie keine Anhaltspunkte mehr hat und die sie durch die Vielzahl von Wahlmöglichkeiten überfordert. Michelle sieht sich sogar bei der Entscheidung, auf welche Bank im Park sie sich setzen soll, vor ein schwieriges Problem gestellt.

„Man konnte soviel falsch machen! Das ganze Leben war voller Wahlmöglichkeiten, und jede konnte ein Fehler sein“.

Wildner erzählt. Eine Geschichte um die Denkmöglichkeit, dass hinter unserer Existenz ein allgegenwärtiges Amt steht, in dem eine höchst irdische Bürokratie herrscht, in dem Schutzengel als korrupte Beamte in unserem Leben herumpfuschen – und wir wissen nicht einmal etwas davon. Die kursiv gesetzten Passagen um Sachbearbeiter Schmidt, in denen er in inneren Monologen eine der wunderbarsten unsympathischen Figuren aktueller Jugendliteratur abgibt, bieten hintergründig böse Komik und treiben die ohnehin nicht gerade tempoarme Erzählung noch schneller voran. Erzählt wird aber vor allem die Geschichte eines jungen Mädchens, das nach der Trennung ihrer Eltern in extreme Unsicherheit und Selbstkritik kippt, deren Entscheidungsschwäche eine nicht mehr zu kontrollierende Eigendynamik entwickelt. Das Feinde hat, aber auch Freunde, die sie nur sehr zögerlich wahrnehmen und letztendlich auch annehmen kann.

Eine spannende und amüsante, eine schöne Geschichte. Da ist nichts schief gelaufen.

Karin Haller