Marlene Röder: Melvin, mein Hund und die russischen Gurken

In Marlene Röders Erzählband „Melvin, mein Hund und die russischen Gurken“ haben junge Menschen, Mädchen wie Jungen, Entscheidungen zu treffen, in denen es um viel geht.

Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 2011


Was esse ich zum Frühstück, welches Kleid trage ich heute Abend, beantworte ich dieses Mail jetzt oder erst morgen oder gar nicht? Ständig ist man vor Entscheidungen gestellt, manche haben keine, andere weitreichende Konsequenzen. Schlafe ich mit dem Freund meiner Cousine? Fahre ich mit meinem Rollstuhl die Skater-Halfepipe hinunter – denn was soll passieren, gelähmt bin ich sowieso schon? Was tue ich, wenn mein bester Freund einen anderen halbtot prügelt, weil er mich und meinen Hund beschützen möchte? Was, wenn ich schwanger bin?

In Marlene Röders Erzählband „Melvin, mein Hund und die russischen Gurken“ haben junge Menschen, Mädchen wie Jungen, Entscheidungen zu treffen, in denen es um viel geht. Auch wenn es auf den ersten Blick gar nicht danach aussehen mag. Achtzehn kurze Texte richten den Scheinwerfer auf Momentaufnahmen, die manchmal ganz harmlos anfangen, um sich dann zu richtungsweisenden Weggabelungen zu entwickeln.

Röder fokussiert auf die großen Themen: Liebe. Freundschaft. Tod. Wie nahe lasse ich einen anderen an mich heran? Wie nahe kann man sich überhaupt sein? Was bedeutet Freundschaft? Wie gehe ich mit Einsamkeit um? Und wie kann ich kämpfen – gegen Ungerechtigkeit, Verleumdung, gegen Gruppenzwang und Erwartungshaltungen anderer?

Sie reißt viele Fragen an – und gibt glücklicherweise keine platten Antworten. Die Autorin stellt ihre Figuren zwar in Situationen, in denen sie sich entscheiden müssen – was sie meist intuitiv tun. Und genau dann hört die Autorin auf zu erzählen: Was passiert, nachdem Ben sich mit seinem Rollstuhl von der Kante der Half-pipe abstößt? Wie geht es weiter, als Janina ihren kleinen Bruder in einen Kaufhausdiebstahl verwickelt? Das bleibt offen. Es werden Geschichten erzählt, oder vielmehr die Schnipsel von Lebensgeschichten, und sie enden immer am richtigen Punkt.

Wie es bei den meisten Erzählbänden der Fall ist, überzeugen einige Texte ganz besonders und andere weniger: Sie berühren, und immer wieder gibt es ganz dichte Stellen, die manchmal traurig sind und manchmal leise-fröhlich und bisweilen sogar ein Gefühl von Zuhause-Ankommen vermitteln: Wenn Hendrick seinem toten Großvater, den er ein Jahr lang nicht im Heim besucht hat, das Namensschild des über alles geliebten Bootes in den Sarg legt. Wenn eine Berührung zugelassen wird, Geheimnisse ins Ohr geflüstert werden.

Cover
Doch viele der Figuren werden, wenn überhaupt, erst lange nach dem Ende des Textes irgendwo oder bei sich selber ankommen. In der Erzählung bleiben sie Suchende, Fragende, und manchmal ahnt man, dass die Entscheidungen, die sie getroffen haben, ihr Leben nicht gerade leichter machen werden.

Die junge deutsche Autorin, die bereits mit ihren Romanen „Im Fluss“ und „Zebraland“ positive Kritiken und Preise erntete, hat den Erzählband wie ein Netzwerk aufgebaut, in dem manche Fäden miteinander verknüpft werden und andere wieder lose bleiben. Einige der Figuren tauchen in verschiedenen Geschichten auf, wodurch einzelne Konstellationen neu und genauer beleuchtet werden: Fabian zum Beispiel ist nicht nur als Nebenfigur der Junge, für den die wegen ihres Gewichts gemobbte Mareike in „Germanys next Seekuh“ schwärmt. In „Wie man ein Klavier los wird“ tritt er als klaviertragender Statist auf, und in „Pflicht oder Wahrheit“ ist er dann Hauptdarsteller, irritiert und verschreckt von noch uneingestandener homosexueller Orientierung. Dieser Text ist auch einer der wenigen, in denen personal erzählt wird, insgesamt sind es nur fünf, ansonsten lässt die Autorin ihre Charaktere lieber als erzählendes Ich sprechen.

Und das tut sie mit viel Emotion und Empathie, mit handwerklichem Geschick und einem guten Gefühl für das richtige Timing. Weshalb die Entscheidung darüber, dieses Buch zu lesen oder eben nicht, eindeutig positiv ausfallen sollte.

Karin Haller