Tamara Bach: Mausmeer

„Mausmeer - schon der Titel ist nicht eindeutig. Erst viel später im Text wird klar, dass damit der Schauplatz des Geschehens gemeint ist, der Anglerteich hinter dem Hof des verstorbenen Großvaters der Hauptfiguren.

Hamburg: Carlsen 2018


„Mausmeer - schon der Titel der neuen Erzählung von Tamara Bach ist nicht eindeutig. Erst viel später im Text wird klar, dass damit der Schauplatz des Geschehens gemeint ist, der Anglerteich hinter dem Hof des verstorbenen Großvaters der Hauptfiguren. Und so entwickelt das ganze Buch seine Faszination – es lässt vieles unklar, vage, oder überhaupt ungesagt, und erzeugt dabei große innere Spannung. Man muss es mögen, zwischen den Zeilen zu lesen, offene Leerstellen im eigenen Kopf zu füllen.

Ben hat sich – unmittelbar vor dem Abitur – von der Schule abgemeldet, niemand weiß davon, seine Freunde nicht, schon gar nicht die Eltern. Um den unvermeidlichen Fragen und Bekehrungs-versuchen zu entkommen, flieht er in das alte, nun verlassene Haus auf dem Land, in dem er die Sommer seiner Kindheit verbracht hat, und seine ältere Schwester Annika nimmt er mit. Die kann nichts damit anfangen, dass Ben plötzlich ihre Nähe sucht, und reagiert nicht gerade mit liebevoller Zuwendung. Schließlich haben sie nie viel miteinander geredet, und wenn man glaubt, was ihre Mutter sagt, haben sie sich auch nie wirklich verstanden. Wenig hilfreich dürfte auch gewesen sein, dass sie von den Eltern gegeneinander ausgespielt wurden und werden: Annika, die Vernünftige, die jetzt in einer anderen Stadt studiert, gegen Ben, der nie so richtig gespurt hat. Außerdem hat Anni keine Ahnung, warum sie hier sind – schließlich schafft es Ben nicht, das zu tun, wofür er eigentlich hergekommen ist: Von seinem Schulabbruch zu erzählen.

Und jetzt sitzen sie in diesem Nirgendwo fest, weil Annika die Autoschlüssel in den Teich geschmissen hat. Aus purer Provokation, weil zuerst sie unbedingt wieder heim wollte und Ben nicht, und dann will er, und sie nicht. Weil sie das Gegenteil ist, „das Hü zum Hott.“
Die Szenerie wird immer surrealer. Zwei junge Menschen in einem abbruchreifen, kalten Haus, die sich anschweigen oder beim Versuch eines Dialogs meistens ins Streiten kommen, dahinter ein Teich, um den ein paar Typen vom örtlichen Anglerverein herumstehen. Dann gehen sie zum Osterfeuer und Ben wird verprügelt, und das ist Annika doch nicht egal. Wenn es drauf ankommt, dann ist es immer noch ihr kleiner Bruder, den sie mit Nachdruck beschützt.

Die Perspektive wechselt zwischen dem erzählenden Ich Annikas und dem ihres Bruders, und man kann es sich als Leserin aussuchen, welchem der beiden Charaktere man sich emotional näher fühlt. Idealisiert ist keine der Figuren, bei weitem nicht, bisweilen sind sie einem sogar fast ein wenig unsympathisch, und bei so mancher Aktion denkt man sich: Echt jetzt? Oft ist nicht sofort nachzuvollziehen, warum Annika, warum Ben sich so und nicht anders verhält.
Nicht zufällig hat die Autorin dem Buch eine Liedzeile der Hamburger Musiker Tocotronic vorangestellt: „Pure Vernunft darf niemals siegen / Wir brauchen dringend neue Lügen“. Vernünftig im Sinne von „besonnen“ oder „nüchtern“, wie es der Duden definiert, sind sie beide nicht, Ben nicht und Annika genauso wenig, es wird übrigens auch ganz schön viel getrunken in „Mausmeer“, und sie lügen nicht nur einander, sondern auch sich selbst an.

Cover
Dabei behält sich Tamara Bach vor, Unvernunft und Widersprüchlichkeiten nicht zu erklären oder zu begründen. Und wie sie etwas nicht sagt, das hat was. Beispielsweise in jener Passage, in der Annika von einer Nachbarin nach ihrem Studium gefragt wird. „Sie fragt noch, was, bekommt eine Antwort, fragt nochmal: „Was?“ Ob das was mit Sprachen sei. Ja. Nein. Egal.“

Auch das ist es, was „Mausmeer“ besonders macht. Die Eigenwilligkeit, mit der sprachlich gearbeitet wird, da prallen kürzeste, abgehackt wirkende Sätze und Satzfragmente auf lange, poetisch anmutende Satzgefüge. Die vage Unbestimmtheit, die über den beiden Protagonisten liegt, aus denen man – je nach eigenem Ermessen – diese oder jene Eigenschaft, diese oder jene Motivation herauslesen kann. Die Lust an Andeutungen und Lücken, die einfach so stehen bleiben. Ebenso wie populärkulturelle Zitate, die unerklärt bleiben. Als Ben am Morgen nach der Osterfeuerprügelei über die vergangene Nacht reden will, meint Annika nur: „First rule of fight club.“ Da schadet es nicht, wenn man als Leser weiß, dass die erste Regel des Fight Club besagt, nicht über ihn zu reden. Oder wenn mit „„Mein Tanzbereich. Dein Tanzbereich“ Dirty Dancing als Synonym für eine Grenzüberschreitung grüßen lässt.

Im Kern erzählt „Mausmeer“ von der Liebe und Verbundenheit zwischen den Geschwistern, die da ist, ohne dass sie wüssten, warum. Weil diese Nähe eigentlich in diametralem Gegensatz dazu steht, wie sie miteinander umgehen. Am Ende wird Ben der Schwester von seinem Schulabbruch erzählen, und sie wird zuhören und keine Fragen stellen und ihm nicht sagen, was er zu tun hat. „Du musst sagen, dass ich die Abmeldung schnellstmöglich nach den Feiertagen rückgängig machen muss.“ souffliert ihr Ben. „Jaja, mach mal. Wenn du willst.“ Das Feuer knackt. „Und wenn ich nicht will?“ „Dann laufen wir.“ sagt sie. Wir sitzen jetzt hier und warten, was passiert. Und was passiert ist, dass wir warten.“ So heißt es am Schluss. Alles andere als ein offenes Ende wäre für „Mausmeer“ kaum vorstellbar gewesen.

Karin Haller