Kevin Brooks: Martyn Pig

Schön ist anders. Martyn, durch seinen Nachnamen „Pig“ sowieso schon zum Außenseiterdasein prädestiniert, lebt bei seinem Vater, einem widerlichen gewalttätigen Säufer, den er mit einer Mischung aus Apathie, Ekel und Routine erträgt.

Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
München: dtv 2004 | 288 S. | ab 14 Jahren


Schön ist anders. Martyn, durch seinen Nachnamen „Pig“ sowieso schon zum Außenseiterdasein prädestiniert, lebt bei seinem Vater, einem widerlichen gewalttätigen Säufer, den er mit einer Mischung aus Apathie, Ekel und Routine erträgt. Seine Mutter hat sie schon vor Jahren verlassen. Es liegt an dem 15jährigen, sein Leben einigermaßen zu organisieren - bis es kurz vor Weihnachten aus den Fugen gerät. Der Vater, betrunken wie immer, stürzt bei einer Auseinandersetzung mit Martyn gegen den Kamin - und steht nicht mehr auf. Tot. In die darauffolgende tatenlose Starre des Jungen bricht ein Brief mit der Information, dass der Vater dreißigtausend Pfund geerbt hat. Der Unfall muss vertuscht werden; gemeinsam mit seiner heimlich adorierten, etwas älteren Freundin Alex zieht Martyn die Geschichte durch - mit ganz anderem Ausgang als erwartet....

Kevin Brooks, britischer Autor mit bunter Biographie – Tankwart, Postbote, Krematoriums-mitarbeiter – hat mit seinem Debüt einen Jugendroman der Extraklasse hingelegt. Man könnte versuchen, ihn mit dem Schlagwort „psychologischer Thriller“ zu beschreiben, und würde ihm damit doch nicht ganz gerecht werden. Denn neben der ungemein spannenden Krimihandlung und der differenzierten Charakterisierung des Ich-Erzählers prägen den Text makrabrer Humor und geschicktes Pendeln zwischen Realismus und Überzeichung, zwischen dramatischen und situationskomischen Momenten. Dazu gibt es ausgedehnte Reflexions-phasen, die auch schon mal um grundsätzliche Fragen von Recht und Unrecht, Schuld und Sühne, Ursache und Wirkung kreisen. Und das alles wirklich ganz ohne moralischen Beigeschmack – ungewöhnlich für ein an jugendliche LeserInnen gerichtetes Buch.

Martyn ist, wen wundert´s bei seinem Leben, Fatalist. Die Regeln sind vorgegeben, alles ist wie es eben ist, und ein anderer schreibt das Skript. „Keiner von uns hat Kontrolle über das, was er tut. Wenn du gut bist, bist du gut – wenn du schlecht bist, bist du schlecht. Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt. Du kannst nichts dran ändern, wie du bist. Und selbst wenn du es könntest, wär es nicht deine Entscheidung.“

Dementsprechend hat er auch in diesen wenigen Tagen vor Weihnachten immer das Gefühl, eigentlich keine Wahl zu haben. Und doch ist er es, der dieser haarsträubenden Geschichte zunächst ihren Drall gibt.

Eine Geschichte, in deren Verlauf die Leiche zur Täuschung der Tante mit Rouge und Wick Vaporub auf todkrank, aber lebendig getrimmt wird, in der ermittelnde Beamte auf Informationsbruchstücken sitzenbleiben und die Frage, was richtig ist und was falsch, nur relative Antworten erlaubt. Dass sie, die Geschichte, sich am Ende doch wieder in Eigendynamik verselbstständigt, ist nur schlüssig.

Brooks kennt, wie sein exzessiv krimilesender Protagonist, die Struktur des klassischen Kriminalromans und spielt mit ihr. Verstreut subtile Hinweise, die schon auf den Ausgang hindeuten - die man aber erst dann wirklich mitbekommt, wenn man das Ende kennt. Lässt seine Hauptperson zwischen Täter und Opfer, zwischen Verlierer und Sieger oszillieren und mischt dramatische Effekte, Horror, Kontemplativität und Humor zu einem erzählerischen Mix, der den Leser sehr schnell durch das Buch treibt, obwohl er eigentlich sehr langsam vorgeht und sich viel Zeit für Details nimmt.

Cover
Zeit für Beobachtungen aus der Szenerie einer englischen Kleinstadt, für emotionale Zustandsbeschreibungen, für Personendarstellungen. Die Charaktere sind genau durchkonzipierte Typen: Der Vater – ein Säufer, wie er eben im Buche steht. Die Freundin – eine schöne toughe Trickserin. Der Erpresser – eine schmierige Dumpfbacke. Der jugendliche Held – schmalbrüstig, aber mit enormen Steherqualitäten.

Stilistisch setzt der Autor dabei einen gekonnten, aussagekräftigen Umgang mit Bildern und Symbolen ein. Wenn er etwa Martyns irre Tante Jean mit den Worten beschreibt: „Ich weiß nicht, welche Farbe ihre Augen haben, aber sie sehen aus, als ob sie sie nie schließen würde“.

Nächstes Jahr im April wird, wieder als Taschenbuch bei dtv in der Übersetzung von Uwe-Michael Gutzschhahn, Brooks nächstes Jugendbuch erscheinen: „Lucas“. Eine schräge Liebesgeschichte, heuer im englischen Original herausgekommen. Man kann gespannt sein.

Karin Haller