
Alexa Hennig von Lange: Leute, ich fühle mich leicht
„Mir nimmt niemand mein Hungern weg. Hungern gibt mir so ein Gefühl von Unabhängigkeit."
„Mir nimmt niemand mein Hungern weg. Hungern gibt mir so ein Gefühl von Unabhängigkeit. Wenn man nämlich richtig Hunger hat, der Magen vor lauter Verzweiflung anfängt, sich selbst zu verdauen, und man es trotzdem schafft, sich nichts hektisch in den Mund zu stopfen, dann hat man die Macht. Es geht um Autonomie. Mein Körper ist das letzte unbesetzte Gebiet, quasi eine unabhängige Provinz. Ähnlich wie das Dorf in Asterix und Obelix.“
Magersucht - nicht, um aufoktroyierten Modelmaßen nachzueifern, sondern um sich autonom und selbstbestimmt zu fühlen: Die fünfzehnjährige Lelle im neuen Jugendroman der deutschen Autorin Alexa Hennig von Lange ist getrieben vom Wunsch, anders zu sein als andere, sich über den Durchschnitt zu erheben. Ihr Mittel zum Zweck: eine veritable Essstörung, die sie aber nicht als Problem sehen will, sondern als ihren Weg in die Individualität eines Genies.
„Leute, ich fühle mich leicht“ : Der Titel des Buches ist Programm. Lelle will sich leicht fühlen, ihr Leben leicht nehmen, selbst wenn es das nicht ist. Ihre Familie ist alles andere als ein Hort der Geborgenheit: Die Schwester Cotsch hat Sex mit älteren Familienvätern und nicht nur mit diesen, der eigene Vater flüchtet vor der Familie zum Schuheputzen in den Keller, Lelles Mutter ist ein hoffnungslos überfordertes Sorgenbündel. Hilfe oder Orientierung ist von diesen Erwachsenen nicht zu erwarten. Die verspricht sich Lelle eher von Johannes, in den sie sich verliebt, und glücklicherweise auch er in sie.
Dass sie kreislaufbedingt immer wieder mal umkippt – na ja, das kann schon mal passieren, das stört auch ihn nicht wirklich. Er ist ja auch nicht gerade der Traum aller Schwiegermütter - und dann doch derjenige, der für Lelle da ist, als sie in eine Klinik für essgestörte Mädchen eingeliefert wird. Der ihr dabei hilft, eine andere Sicht auf sich und ihre Krankheit zu entwickeln.
Vordergründige Pädagogik kann man Hennig von Lange, die als 24jährige mit ihrem Erstling „Relax“ 1996 einen Bestsellererfolg landete, auch in diesem Roman schwerlich anlasten. Pointierte Dialoge, screwball-artige Situationen und aberwitzige Charaktere dominieren den Text, der Magersucht als eine Spielart jugendlicher Lebensrealität thematisiert, ohne missionieren zu wollen. Flapsig, wie hingerotzt, in schnellem Tempo geschrieben, sehr amüsant.

Mit dem ihr eigenen Humor macht sich Hennig von Lange spürbar über ihre Charaktere lustig, vor allem auch über die Protagonistin und deren Selbstüberschätzung: Lelles bizarre Selbstanalysen, ihre überhebliche, durch und durch neurotische Eigenwahrnehmung triefen vor subversiver Ironie. Um diese entschlüsseln zu können, sollte man als Leserin aber auch schon über ein gewisses Maß an Reflexions- und Selbstreflexionsvermögen verfügen. Dann jedoch wird „Leute, ich fühle mich leicht“ zu einem Paradebeispiel zeitgenössischer Jugendliteratur, das ein klassisches Problemthema so gar nicht problemorientiert verhandelt – und gerade dadurch einen wesentlichen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Thema leistet. Es darf gelacht werden, auch wenn´s eigentlich nicht zum Lachen ist.