Eva Rottmann: Kurz vor dem Rand

Erzählt aus den drei verschiedenen Perspektiven der Hauptfiguren, wodurch sich Fremdwahrnehmung und Eigenwahrnehmung auf das Beste ergänzen.

Berlin: Jacoby & Stuart 2023. 204 S., € 16,50. ISBN-13 978-3-96428-188-3

Sich am Rand zu befinden, kann einiges bedeuten, man steht am Rand eines Abgrundes, des Ruins, der Gesellschaft. Positive Assoziationen sind eher selten. Insofern verwundert es nicht, wenn man Eva Rottmanns neuen Jugendroman mit dem Titel „Kurz vor dem Rand“ aufschlägt und liest: „Ich heiße Ari, und dies ist die Geschichte meiner ersten Liebe. Sie geht nicht gut aus, das sag ich euch gleich.“ Doch eigentlich spielt die Liebesgeschichte gar nicht die Hauptrolle, oder zumindest nicht die einzige. Wenn die Siebzehnjährige über die zwei Wochen nach Ostern schreibt, dann nicht nur davon, wie sie sich – trotz aller Vorbehalte – in Tom verliebt und hinter dessen cooler Fassade einen zutiefst traumatisierten Jungen findet. Sie erzählt von vielen anderen Menschen, die in ihrem Leben wichtig sind. Vom liebevollen Vater Bob, der sie allein großgezogen hat, von der früher als „Siedlungs-Marilyn-Monroe“ bezeichneten Mutter, die abgehauen ist, da war Ari gerade mal ein Jahr alt, und die jetzt plötzlich vor der Tür steht. Und vor allem erzählt das Mädchen von ihrer Community, den Skatern, die sie vorbehaltlos akzeptieren, so wie sie ist.

Bevor sie mit neun anfing zu skaten, hatte sie nicht einmal Freundinnen, weil sie sich regelmäßig mit irgendjemandem prügelte. Jetzt hat sie ihre Wahlfamilie gefunden. Es sind Jugendliche, die auf sich selbst angewiesen sind. Eine Lehre machen so wie Ari oder die Schule schmeißen und als Türsteher arbeiten. Sie akzeptieren die Dinge so, wie sie sind. Dass das Geld knapp ist und es im Sommer nicht in den Urlaub geht, sondern ins Freibad, „Es muss uns reichen. Wir haben ja keine Wahl“. Jammern klingt anders. Beim Skaten lassen sie alles hinter sich, weil man da unmöglich über etwas nachdenken kann, sondern maximal konzentriert im Hier und Jetzt sein muss. Das Bewusstsein, dass es immer auch schief gehen kann, macht alles intensiver, so wie vielleicht überhaupt „das beste Leben kurz vor dem Rand“ ist, „nicht zu weit weg, aber auch nicht drüber. Einfach kurz davor.“ Das Buch ist auch eine große Liebeserklärung an diese Sportart und ihr Lebensgefühl.

 

Eva Rottmann: Kurz vor dem Rand

Bei den Skatern zählt die Performance auf dem Board mehr als Äußerlichkeiten oder Zuschreibungen: „Sie hätten auch Lord Voldemort ins Herz geschlossen, wenn er einen ordentlichen Kickflip im Repertoire gehabt hätte“.
Lou beispielsweise bezeichnet sich als non-binär, was keinen aufregt, und Ari ist es egal, dass sie von den anderen als halber Junge gesehen und für lesbisch gehalten wird, seit sie am Stadtfest mit der Gitarristin einer Band geknutscht hat.

Dass sie eigentlich Arielle heißt, würde niemand vermuten, ist sie doch das genaue Gegenteil einer Disney-Prinzessin, „die sich mit einer Gabel die Haare kämmt und ihre Stimme abgibt für einen Typen, den sie zweimal im Leben gesehen hat. (…) An dem Tag, an dem ich meine Haare zwischen den Fingern drehe, darf man mich standrechtlich erschießen.“
Und doch wird sie irgendwann sogar zum Lippenstift greifen, weil eben nichts Schwarz-Weiß ist und Veränderungen möglich sind, oder auch nur kurze Ausreißer.

Die Art, in der Ari die Ereignisse festhält, ist mehr beschreibend als reflektierend, Emotionen werden nicht durchdekliniert. Das Buch, das sich auch viel Zeit für Schauplatz-beschreibungen nimmt, hat unaufdringlichen Tiefgang, es ist berührend und stellenweise sehr komisch. Die Dialoge, in denen sich englische Ausdrücke und jugendsprachliche Begriffe finden, ohne aufgesetzt oder bemüht zu wirken, tragen da viel dazu bei.
„Wir hauen ihm ganz bestimmt nicht aufs Maul“, sagte Yasin. „Warum willst du immer allen aufs Maul hauen?“
„Wieso ich? Ich hab das nicht gesagt. Ari hat das gesagt“, verteidigte sich Teddy.
„Hab ich überhaupt nicht“, sagte ich.
„Zwischen den Zeilen, my love“, sagte Teddy. „Ich hab zwischen den Zeilen gelesen.“
„Ist klar“, sagte ich. „Als könntest du zwischen den Zeilen lesen. Du kannst ja nicht mal in den Zeilen lesen.“

Eva Rottmanns Tonfall ist prägnant, effizient und unaufgeregt. Wenn es um Beziehungen geht oder eben auch um grundsätzliche Themen wie die Frage nach Geschlechteridentitäten, um Liebe, Sexualität, Familie, Freundschaft. Um die Zusammenhänge zwischen den Ereignissen. Ari macht sich etwa Gedanken darüber, wie Biografien verlaufen. Wann fängt es an zu kippen? „Bis wann ist man noch lustig und vielleicht einfach ein bisschen mutiger als andere? Und ab wann ist man krank? Wo ist der Rand? Fällt man einfach irgendwann runter, und merkt man das oder sagen einem das die anderen?“

Das Ende der Geschichte ist übrigens kein Ende. „Weil ich noch mittendrin bin. […] Weil es mit den Enden vielleicht das Gleiche ist wie mit den Anfängen. Es gibt sie gar nicht.“

Karin Haller