Michèle Minelli: Keiner bleibt zurück

Wien: Jungbrunnen 2025, 224 S., € 19,00, ab 12

„Alle haben Angst, Samuele“ sagt der Schulsozialarbeiter zu einem Jungen, der die Aufnahmeprüfung aufs Gymnasium verhaut hat. Dabei hätte er, Samuele, der erste in der Familie sein sollen, der es schafft, der nicht wie der Vater und die älteren Brüder auf dem Bau arbeitet: „Wozu sind wir denn in die Schweiz gekommen, vero? Wozu haben wir den ganzen sonnigen Süden Süden sein lassen und sind ab nach Norden?“
Samuele Rossi ist einer von 13 Jugendlichen einer Schulklasse, die hier in der Form eines Reigens über sich erzählen. Da ist Tekkie, eigentlich „Robert L. M. der Dritte, kein Scherz“, Sohn eines Bauunternehmers, der an den Rand des Ortes ein Anwesen mit allen Schikanen hingestellt hat. In das dann mitten hinein in Tekkies Party zum vierzehnten Geburtstag die Finanzpolizei zur Hausdurchsuchung antritt.
Oder Nico, der Sohn des immer gefrusteten Bauern gleich nebenan, der seinen Jungen gern am Samstagnachmittag mit dem lauten Kärcher den Traktor reinigen lässt, um die Nachbarn zu ärgern.
Dann die zu allen freundliche Liv: Seit dem Tod ihres Vater wird sie auf Schritt und Tritt von einem unsichtbaren Freund begleitet; der die meisten Mitschüler:innen furchtbar nervt, trotzdem decken sie Liv und ihren Eddie vor den Lehrern.
Oder die selbst- und zielbewusste Blerta, von der ein Kollege sagt, sie gehe „jeden Schultag als weiblicher Moses durch das Rote Meer“. Blerta weiß definitiv, was sie aus ihrem Leben machen will, ihre Mitschüler:innen bezeichnet sie gern als „kleine Kinder“.
Zwar sind all diese Figuren ausgeprägte Typen, kommen aus klar definierten Milieus mit entsprechenden sozialen Ressourcen, werden aber durchaus ambivalent gezeichnet und differenziert ausgeleuchtet. Nicht zuletzt durch eine jeweils fein herausgearbeitete Sprechweise. Dazu dienen auch die kurzen Texte aus sogenannten „Schreibinseln“. Der Klassenlehrer, eine Art zugewandte graue Eminenz, hat das Motto „Schreibenschreibenschreiben“ ausgegeben. Ständig wird also im Rahmen des Unterrichts die Persönlichkeit und aktuelle emotionale Befindlichkeit der jungen Leute in Flash Fiction, autobiographischen Miniaturen oder anderen Kürzesttexten reflektiert. Sie stehen, ihren fiktiven Protagonist:innen namentlich zugeordnet, zwischen den Kapiteln. Dass Michèle Minelli die Figuren ihres Romans auch im Rahmen längerer Schreibprojekte mit Schüler:innen erarbeitet hat, ist im Nachwort zu lesen.

 

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In einem Reigen also lässt die Schweizer Autorin jede der dreizehn Protagonist:innen über einen Zeitraum von knapp drei Jahren hinweg auftreten und über sich erzählen. Jede und jeder wird einmal zum Erzähler und zur Hauptfigur, immer aber bleiben alle mehr oder weniger deutlich sichtbar. Das macht nebenbei unmittelbar anschaulich, wie weit Selbst- und Fremdwahrnehmung differenzieren können. Nach und nach bündeln sich die Figurenreden zu Erzählsträngen, bildet sich ein immer dichteres Netzwerk. Dynamik und Spannung entstehen dabei durch den ständigen Perspektivenwechsel, dazu macht der lange Erzählzeitraum nicht nur Zeitsprünge und Auslassungen nötig, auch die jugendlichen Protagonist:innen und ihre Beziehungen zueinander verändern sich.

Diese Konstruktion bedingt, dass viel Konzentration nötig ist, um den Überblick über die Figuren zu behalten. Aber es gilt auch im Lesevorgang, was der Buchtitel proklamiert und was in der Rahmung mit der Inszenierung eines gemeinsamen Initiationserlebnisses am Anfang und einem Epilog deutlich gemacht wird: „Keiner bleibt zurück“. Auch nicht in den Wirren jener Lebensphase, in der viele Jugendliche – manche zu früh – gezwungen sind, sich die Fragen zu stellen: Was will ich sein, was will ich lernen, werden, welchen Beruf will ich vielleicht ein Leben lang ausüben? Die Angst vor folgenreichen Entscheidungen, der Druck der Eltern und der Institution Schule, Berufsorientierung, Schnupperlehren – das steht in Michèle Minellis Roman thematisch im Focus. Was im Übrigen so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal ist – es gibt nur wenige jugendliterarische Texte, die sich mit Berufswahl und Arbeitswelt auseinandersetzen. Offensichtlich wird gegenwärtig davon ausgegangen, dass jene, die keine weiterführende Schule besuchen, nicht merken, dass ihre Lebenswelt in der Jugendliteratur kaum repräsentiert ist, weil sie ohnehin nicht lesen. Dass Michèle Minelli am Ende auch den schon erwähnten Klassenlehrer im Reigen mittanzen lässt, hätte nicht sein müssen. Er wird zuvor ja schon auf besondere Weise in den Erzählungen seiner Schüler:innen zu einem Charakter. Seine Selbstdarstellung scheint eher für die erwachsenen Mitlesenden gedacht zu sein, als eine Art Vorbild vielleicht. Aber das nur am Rande. Insgesamt ist es überraschend, wie gut dieser Konzept- und Themenroman funktioniert, wie fesselnd die Lektüre ist. Ganz ohne spannungstreibende Action, fantastische Pforten, romantische Verwicklungen oder weltumspannende Verschwörungen kommt man diesem Ensemble von überaus normalen Figuren nahe. Und wünscht sich, dass keine von ihnen zurückbleibt.

Franz Lettner