Thorsten Nesch: Joyride Ost

Was wäre, wenn Romeo und Julia nicht im Verona der Renaissance, sondern Anfang des 21.Jahrhunderts in einem deutschen Kaff namens Wessenheim lebten?

Ein Roadmovie-Roman
Hamburg: Rowohlt 2010


Was wäre, wenn Romeo und Julia nicht im Verona der Renaissance, sondern Anfang des 21.Jahrhunderts in einem deutschen Kaff namens Wessenheim lebten? Sie könnten wie in Thorsten Neschs neuem Jugendroman „Joyride Ost“ Tarik und Jana heißen, die Montagues wären dann eine streng patriachalisch funktionierende türkische Familie und die Capulets baptistische Russen.

Bei Nesch ist Tarik kein heroischer Edelmann, sondern ein rotzfrecher Underdog, dem das Scheitern näher liegt als das Gewinnen; Jana keine verträumte Naive, sondern geistreich und tatkräftig. Dass sich die beiden ineinander verlieben, ist Zufall oder Schicksal – und es bedeutet großen familiären Stress: Um ihm zumindest kurzfristig zu entkommen, leben sie Freiheitsdrang und Abenteuerlust aus, brechen alle Regeln und klauen spontan einen Wagen für eine Spritztour. Doch dummerweise erwischen sie das falsche Auto. Im Kofferraum des BMWs liegt nämlich ein gefesselter Auftragskiller, der von der Mafia in einem See entsorgt werden soll. Und so beginnt eine aberwitzige Road-Novel, die die zwei Jugendlichen und den genervten Italiener bis an die polnische Ostsee führt, verfolgt von ihren Brüdern und dem Besitzer des gestrohlenen Wagens, der ganz andere Interessen als die Heimkehr der Flüchtigen hat.

Thorsten Nesch legt einen extrem temporeichen und dramaturgisch geschickt erzählten Text vor, der von einer Szene zur anderen jagt. Atmosphärisch erinnert er an den Film„A life less ordinary“ mit Ewan McGregor und Cameron Diaz, in dem sich durchgeknallte Kamikaze-Aktionen ebenfalls mit Romantik mischen. Auf Glaubwürdigkeit und Logik wird verzichtet, es lebe die Stärke des skurrilen Einfalls. Da geht die Magnum genau dann los, wenn sie es soll und trifft dabei auch den Richtigen; da findet eine alte Dörflerin mit Gehhilfe vor ihrem Haus das Verfolgertrio, zu dem notabene auch ein Mafioso gehört, und bewirtet es, eine doppelläufige Schrotflinte unterm Arm, mit Milch.

Getragen wird der Text neben seinen irrwitzigen Szenen und Figuren von den pointierten Dialogen und den inneren Monologen des Ich-Erzählers Tarik, der das Geschehen staubtrocken präsentiert. Der Humor ist nicht unbedingt sophisticated, doch niemals niveaulos und weiß neben brachialer Heiterkeit durchaus auch mit feinerer Klinge zu arbeiten.

Cover
„Joyride Ost“, nach „Strandpiraten des Lebens“ der zweite Roman des deutschen Autors, bietet kurzweilige, schnell zu lesende Unterhaltung. Problemorientierte Motive wie Tariks Perspektivenlosigkeit, die seine Zukunftsaussichten auf eine Anstellung an der Tankstelle beschränkt, oder die aggressive Kommunikationsverweigerung zwischen verschiedenen Ethnien sind zwar erkennbar, bleiben aber im Hintergrund. Im Mittelpunkt stehen neben der äußeren Aktion Tariks Momentaufnahmen innerer Befindlichkeit; er hat neben den Herausforderungen des Geschehens mit dem unvertrauten Gefühl erster Verliebtheit genauso zu kämpfen wie mit der Tatsache, dass die Ereignisse seine Coolness permanent ad absurdum führen.

Beide Figuren sind durch und durch sympathische Charaktere: Tariks „Ich-mach-dich-platt“ – Gehabe, mit dem er im Freundeskreis als der Macher gilt, wird mit Tollpatschigkeit und eher peinlichen Situationen konterkariert; Janas mädchenhafte Zartheit – „fahr nicht schneller als 120!“ – verbindet sich, wenn´s drauf ankommt, mit entschiedener Tatkraft und der Tatsache, dass sie mit der Magnum besser umgehen kann als Tarik: „Sag mal, bist du vom bewaffneten Arm der Baptisten?“

Was wäre also, wenn Romeo und Julia sich nicht in Verona, sondern in Wessenheim verlieben würden? Sie würden als Tarik und Jana nach einem Showdown am Ostsee-Strand, an dem alle aufeinander treffen, zu ihren Familien heimkehren. Ob sie zusammen bleiben dürfen, ist offen. Aber immerhin überleben sie. Und das ist ja auch schon was.

Karin Haller