Tommy Wieringa: Joe Speedboat

„Joe war weniger ein ungewöhnlicher Junge als eine entfesselte Kraft. In seiner Nähe bekam man Gänsehaut vor Spannung."

Keine Zeit für Helden
Aus dem Niederländischen von Bettina Bach
München: Hanser 2006


„Joe war weniger ein ungewöhnlicher Junge als eine entfesselte Kraft. In seiner Nähe bekam man Gänsehaut vor Spannung – Energie nahm in seinen Händen Gestalt an, in loser Folge fabrizierte er Bomben, Rennmopeds und Flugzeuge und spielte damit wie ein sorgloser Zauberer. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, bei dem Ideen so selbstverständlich Wirklichkeit wurden, auf den Angst und Konventionen so wenig Einfluss hatten.“ (S. 68)

Wie ein Meteorit schlägt Joe Speedboat in das kleine niederländische Dorf Lomark ein und wird Fransjes Leben verändern. Ein Leben, das unmittelbar zuvor eine dramatische Wendung genommen hat: Nach einem Unfall sitzt der Vierzehnjährige im Rollstuhl, spastisch gelähmt, unfähig zu sprechen. Über die Jahre hinweg wird sich dennoch langsam eine Freundschaft zwischen den beiden ungleichen jungen Männern entwickeln, wird sie eng zusammen und dann wieder auseinander führen.

Mit großer Akribie hält der Ich – Erzähler Fransje in Tommy Wieringas neuem Jugendroman „Joe Speedboat“ die wichtigsten Ereignisse in seiner Umgebung aus der Position des unbeteiligten Beobachters fest. Er ist der „Unsichtbare“, dem selten mehr als ein Augenblick Aufmerksamkeit geschenkt wird, der Geschichtsschreiber des Dorfes.

Durch seine Behinderung zur Bewegungs- und Sprachlosigkeit verdammt, nimmt er kleinste Veränderungen wahr, sieht genau hin und hört genau zu. So lernt der Leser durch Fransjes Aufzeichnungen höchst ungewöhnliche Menschen kennen: Joe Speedboat, der seinen wahren Namen als Irrtum abgelegt hat, der aus purer Experimentierlust Bomben bastelt, ein Flugzeug baut, das tatsächlich fliegt, mit einem Bagger an der Paris – Dakar Rallye teilnimmt und Fransje zum Champion im Armwrestling macht. P.J., Fransjes große Liebe, ein blondgelocktes skrupelloses Gift, die für Verrat zwischen Freunden, Untreue und Sex zuständig ist und am Ende schwanger in einem Häuschen mit Garten landet. Joes Mutter, die einen Nubier heiratet, den „ersten angemeldeten Neger von Lomark“, und von ihm auf abenteuerliche Weise verlassen wird. Und natürlich den Ich – Erzähler selbst, einen heranwachsenden Jugendlichen mit normalen Bedürfnissen in einer ganz und gar nicht normalen Situation. Der sich, Rollstuhl hin oder her, am Wochenende volllaufen lässt, der nicht rundum „Gutmensch“ ist, sondern auch auf der Klaviatur von Neid, Eifersucht und Wut spielen kann.

Cover
Sie alle werden von Wieringa mit viel Sympathie geschildert. Fransjes Blick auf seine Welt ist nicht unkritisch, aber liebevoll. Seine Sicht auf Joe Speedboat ist die Perspektive eines faszinierten Bewunderers, entgegen dem ironischen Untertitel „Keine Zeit für Helden“ ist Joe für ihn der Held schlechthin, auch wenn dessen Geheimnis am Ende ein wenig entzaubert wird. Nur wenn es um ihn selbst geht, kennt der Ich – Erzähler keine Schonräume und beschreibt seine Behinderung mit einer Offenheit, die in ihrem Zynismus kaum Tabugrenzen kennt: „Als ich zu ihm aufschaue, läuft mir ein Schwall Spucke aus dem Mund. Literweise hab ich von dem Zeug. Ich könnte Goldfische halten“. (S. 25)

Der Autor pendelt ohne Rücksicht auf Verluste zwischen Tragik und Komik, zwischen abenteuerlichen, actionreichen Szenen und Exkursen in Geschichte und Naturwissenschaft, zwischen einem langsamen Erzählton voller Metaphern und einer punktgenauen, denkbar unsentimentalen Sprache, zwischen großer Nähe und großer Distanz zu seinen Figuren. In diesem Facettenreichtum entwickelt sich eine Geschichte über Freundschaft und Liebe, Scheitern und Erfolg, Frieden und Kampf. Nicht umsonst sieht Fransje in der mythischen Figur des Samurais seine Inspiration, wird dem Roman das Motto vorangestellt: „Der Samurai, so sagt man, hat einen doppelten Weg, den des Pinsels und den des Schwerts.“ Zwei Pole, die den Text und Fransjes Leben teilen, zwischen denen sich das Erwachsenwerden der Protagonisten abspielt.

Das Tempo, mit dem Wieringa auf rund dreihundert Seiten die Stationen dieses Erwachsenwerdens passiert, ist hoch: Cliquenbildung, Schule und Schulabschluss, Studium oder Geldverdienen, Loslösung von den Eltern, die erste große Liebe, der erste Sex, die ersten Enttäuschungen und Siege - sechs oder sieben Jahre verfliegen vor dem Auge des Lesers, verbinden magische und spannende, witzige und traurige, laute und leise Momente miteinander.

„Joe Speedboat“ ist natürlich ein ungewöhnlicher Junge. Und ein sehr ungewöhnliches Buch.

Karin Haller