Craig Silvey: Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Ein Held ist Charlie definitiv nicht, schmächtig und bebrillt liegt seine einzige Stärke in seiner Belesenheit. Und doch zögert er nicht, als eines Nachts Jasper Jones, der Junge mit dem schlechtesten Ruf der Stadt, vor seinem Fenster auftaucht und ihn um Hilfe bittet.

Aus dem Englischen von Bettina Münch
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2012


Ein Held ist Charlie definitiv nicht, schmächtig und bebrillt liegt seine einzige Stärke in seiner Belesenheit. Und doch zögert er nicht, als eines Nachts Jasper Jones, der Junge mit dem schlechtesten Ruf der Stadt, vor seinem Fenster auftaucht und ihn um Hilfe bittet. Jasper bringt Charlie zu seinem Geheimplatz, einer im Busch verborgenen Lichtung – und zur Leiche von Laura Wishart, die erhängt von einem Ast baumelt. Nur im Nachthemd, barfuss, offensichtlich misshandelt. Die beiden Jungen können den Fund nicht einfach der Polizei melden, der grundsätzlich verdächtige Jasper würde unhinterfragt der Schuldige sein. Also versenken sie die tote Laura im Wasser.

Mit dieser Szene beginnt – von null auf hundert beschleunigend - Craig Silveys neuer Jugendroman „Wer hat Angst vor Jasper Jones“. Ein wahrer Page Turner, denn natürlich will man erfahren, was und wer hinter dem Tod des jungen Mädchens steckt. Doch diese kriminalistische Handlungsschiene ist nur eine von mehreren Strängen, die der Autor ineinander flicht, und nicht die wichtigste.

Die fiktive Kleinstadt Corrigan im Westen Australiens ist der im Jahr 1965 angesiedelte Mikro-Kosmos, in dem sich exemplarisch Rassismus, Vorurteile, Doppelmoral und familiäre Dramen abspielen. In diesem Umfeld, in dem Gerüchte wuchern, bis sie nicht mehr von der Wahrheit zu unterscheiden sind, kann der Halb-Aborigine Jasper ohne jede Grundlage kriminalisiert und ausgegrenzt werden, hier wird ein harmloser alter Mann – den nie jemand zu Gesicht bekommt – als verrückter Killer gefürchtet, wird eine aus Hanoi stammende Einwanderer-Familie für den Vietnamkrieg verantwortlich gemacht und schikaniert. Bisher hat der vierzehnjährige Charlie nicht viel hinterfragt, wollte nur möglichst unauffällig durchkommen. Doch die Nacht mit Jasper Jones und die darauffolgenden Ereignisse verändern alles. Er beginnt, sich für die Hintergründe menschlicher Grausamkeit zu interessieren, für die Zusammenhänge zwischen Tätern und Opfern. Mehr und mehr weichen seine kindliche Naivität und die an Feigheit grenzenden Schmerzvermeidungs-Strategien der Bereitschaft, sich mit seiner Umwelt kritischer, reflektierter auseinander zu setzen und sich auch auf Konfrontationen einzulassen. So ist es fast unvermeidlich, dass mit der Lösung des Geheimnisses um Lauras Tod nicht nur ein dunkles Geflecht von Grausamkeit und Lügen in deren Familie zutage tritt, sondern auch die Fassade von Charlies eigener Familie in sich zusammenstürzt.

„Wer hat Angst vor Jasper Jones“ ist gesellschaftskritischer Roman, Krimi und Coming-of-Age Story in einem, und noch mehr: Eine Vater-Sohn Geschichte etwa. Es berührt, wie Charlies Beziehung zu seinem Vater, der die aggressive Dominanz der Mutter mit stoischer Ruhe erträgt, an gegenseitigem Respekt und Verständnis gewinnt. Es ist auch eine Erzählung um erste Liebe unter erschwerten Bedingungen: Eliza, in die Charlie sich verliebt hat, ist die jüngere Schwester der toten Laura, und auch sie verbirgt ein Geheimnis. Außerdem ist das Buch eine Liebeserklärung an den Cricket-Sport, mit längeren, manchmal zu langen Spielpassagen.

Cover
Und, nicht zuletzt, ist es eine Hommage an die Literatur, ein Buch über Bücher: nicht nur Holden Caulfield und Huckleberry Finn haben ihren Cameo-Auftritt. Der in seiner Lektüre lebende Charlie vergleicht sich auch gerne mit Atticus Finch, dem Protagonisten aus „Wer die Nachtigall stört“, wägt „Gut“ und „Böse“ seiner Handlungen wie dieser ab. Der den Rassismus in den amerikanischen Südstaaten anklagende Klassiker von Harper Lee scheint für die grundsätzliche Atmosphäre und erzählerische Stoßrichtung von „Jasper Jones“ insgesamt prägend zu sein.

Dass trotz der Fülle von Motiven und Strängen dennoch nichts überfrachtet wirkt, liegt nicht zuletzt an der Stärke der Figurendarstellung. Neben dem sehr ausdifferenzierten Ich-Erzähler beeindruckt Charlies vietnamesischer Freund Jeffrey Lu, dessen unbeugsamer Stolz und ansteckend gute Laune durch keine Gemeinheiten und Misshandlungen gebrochen werden können. Auch Jasper, ein entgegen seines Rufes sensibler, nachdenklicher und alles andere als gewalttätiger junger Mann, besitzt „eine Kraft, die ansteckend ist“. An starken Außenseitern mangelt es diesem Buch wahrlich nicht.

Am Ende besteht Charlie eine Mutprobe, die in Wahrheit eine Farce ist, und wird von denen gefeiert, die ihn früher verprügelt haben: Eine Szene, die bildlich für die Geschwindigkeit steht, mit der sich der Wind innerhalb einer Gemeinschaft drehen kann. Charlie kommentiert sie selbstironisch mit: „ Ich hatte den Drachen erschlagen. Ich war der Held.“ Auch wenn er vielleicht kein Held im klassischen Sinn sein mag – über sich selbst hinausgewachsen ist er im Verlauf dieses großartigen Buches allemal.

Karin Haller