Sarah Weeks: Jamies Glück

In intensiven Bildern erzählt Sarah Weeks die Geschichte eines Jungen, der sich – die Finger in den Ohren, damit er nichts hört – hinter seinem Schweigen verbarrikadiert hat.

Aus dem Amerikanischen von Birgit Kollmann
München: Hanser 2007


Wenn bei einer zerkratzten Platte die Nadel hängt, kann man mit dem Fuss aufstampfen, damit sie weiterhüpft. In einem brüchigen Leben geht das leider nicht so einfach. Obwohl es genau das wäre, was sich der elfjährige Jamie in Sarah Weeks neuem Jugendroman „Jumping the scratch“, auf deutsch „Jamies Glück“, wünschen würde. Über die Gräben springen, die aufgerissen wurden, vergessen, was passiert ist: Dass sein Vater mit der Supermarktkassiererin auf und davon ist, sein Kater überfahren wurde, seine Tante Sapphy nach einem Unfall ihr Kurzzeitgedächtnis verloren hat und zum Pflegefall geworden ist. Und vor allem, was zu Weihnachten mit dem alten Gray geschah, worüber er mit niemandem reden kann. Bis er es schließlich doch erzählt – seiner Tante Sapphy, darauf vertrauend, dass sie es ohnehin gleich wieder vergisst. Doch ist seine Geschichte genau der Auslöser, der ihr ihr Gedächtnis zurückgibt, und das Durchbrechen des Schweigens ist der Schlüssel, der auch für Jamie alles wieder zum Guten wendet.

In intensiven Bildern erzählt Sarah Weeks die Geschichte eines Jungen, der sich – die Finger in den Ohren, damit er nichts hört – hinter seinem Schweigen verbarrikadiert hat. Der wie eine hängengebliebene Schallplatte in einer Rille von Schuldgefühlen, Einsamkeit und Angst kreist. Doch glücklicherweise gibt es seine Mitschülerin Audrey, ein bemerkenswertes Mädchen mit einer riesigen Brille ohne Gläser auf der Nase, mit der sie mehr sieht als die anderen. Sie ist es, die ihm immer wieder einen Schubs gibt, solange, bis die Nadel weiterspringt und er seine traumatischen Erlebnisse überwinden kann.

Was erzählt wird, ist alles andere als schön. Es geht um sexuelle Belästigung, um Mobbing, ungerechte Lehrerinnen, das schwierige Leben der kleinen Familie, die sich – in einem Wohnwagen zusammengepfercht – um eine Frau ohne Gedächtnis kümmern muss. Und doch ist alles in einer so leichten, fast heiteren Melodie geschrieben, dass das Erzählte erträglich wird. Die unsentimental emotionale Sprache, die diskrete Art, Informationen auszusparen oder nur durch Metaphern zu vermitteln, tun gerade bei sogenannnten „problemorientierten“ Themen gut. Dass etwa der Missbrauch Jamies durch den alten Gray nur angedeutet wird, passt zur grundsätzlichen Tendenz des Textes, zwischen den Zeilen zu erzählen.

Cover
Wie sich die einzelnen Charaktere fühlen, muss man sich als Leser aus einer Fülle von kleinen Bildern zusammensuchen – und es funktioniert. Selbst Figuren wie Jamies überforderte Mutter, von denen man nur sehr wenig erfährt, sieht man deutlich vor sich, erst recht die außergewöhnliche, exzentrische Audrey und Tante Sapphy, rührend in ihrer gedächtnislosen Heiterkeit, grundsympathisch in ihrer schlichten Art, Dinge und Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind. Und natürlich den Ich-Erzähler selbst, der mit nur wenigen Worten viel über sich selbst vermittelt:

„Wir waren im November nach Traverse City gezogen, zwei Monate nach Beginn des Schuljahres, und als es Frühling wurde, hatte ich noch keinen einzigen Freund gefunden. Es war meine eigene Schuld. Es ist schwer für andere, einen zu mögen, wenn man sich selbst nicht ausstehen kann.“

Sarah Weeks beherrscht ihr Handwerk: In sauber geführten Linien setzt sie Oppositionen, verbindet die Sehnsucht Jamies, alles zu vergessen, mit dem Bemühen, Tante Sapphy ihre Erinnerung zurückzugeben. Stellt ausgesprochen liebenswerte gegen ausgesprochen widerliche Charaktere, widmet den einen viel, den anderen nur wenig erzählerischen Platz.

So entstehen Figuren, mit denen man mitfühlt, so wie überhaupt Empathie und das „auf einen anderen Menschen Eingehen“ die gesuchten magischen Auslöser sind, die ein neues Leben ermöglichen. Audrey sieht genau hin und Sapphy hört genau zu. Diese Fähigkeiten sind es, die „Jamies Glück“ ausmachen.

Karin Haller