Laurel Snyder: Insel der Waisen

„Neun Waisen auf einer Insel, allein auf der Welt, einer mehr, und der Himmel fällt.“

München: Mixtvision 2020
300 S. | € 17,50 | ab 12



„300 Jahre Einsamkeit“ titelte das Feuilleton letztes Jahr anlässlich des Jubiläums des Meilenstein-Romans von Daniel Defoe, der einer ganzen Gattung ihren Namen gab: die Robinsonade. Auch in der Kinder- und Jugendliteratur gibt es namhafte Vertreter, allen voran natürlich William Goldings 1954 entstandener „Herr der Fliegen“. Nun hat in diesem Herbst die vielfach ausgezeichnete amerikanische Autorin Laurel Snyder mit ihrem Jugendroman „Insel der Waisen“ dem Genre eine neue spannende Note hinzugefügt.

Es ist eine unberührte, paradiesische Insel, auf der neun Waisen allein und ohne jeden äußeren Einfluss leben. Sie versorgt die Kinder mit allem, was sie brauchen, inspiriert und beschützt sie. Bienen stechen nicht, Schlangen beißen nicht, und sogar wenn man sich im Spiel von einer Klippe fallen lässt, stürzt man nicht in den Tod, sondern wird vom Wind behutsam zurück auf das Felsplateau getragen. Alles gehorcht mysteriösen ungeschriebenen Gesetzen, von denen das Oberste lautet: „Neun Waisen auf einer Insel, allein auf der Welt, einer mehr, und der Himmel fällt.“ Neun Kinder dürfen es sein, nie mehr, nie weniger. Wenn die Glocke läutet, dann kommt ein Boot aus dem undurchdringlichen Nebel und bringt ein neues Kind in die Gemeinschaft. Es wird das Jüngste in der Gruppe sein und keinerlei Erinnerung an die Welt außerhalb der Insel in sich tragen. Dafür muss ein anderes, das jeweils Älteste, das Boot besteigen – und es ist kein leichter Abschied, sondern ein schmerzhafter Aufbruch ins Ungewisse.

cover snyder insel der waisen

Die Kinder halten sich ohne Nachfragen an die überlieferten Verhaltensregeln, leben ohne jede Rebellion, von kleinen Auseinandersetzungen abgesehen, in harmonischer Arbeitsteilung friedlich zusammen. Jede und jeder erfüllt in der gut organisierten Gemeinschaft ihre bzw. seine Aufgabe. Dazu gehört für den oder die jeweils Älteste, sich um das neu angekommene Kind zu kümmern und auf das Leben auf der Insel vorzubereiten. Dieses Mal fällt Jinny, der Protagonistin des Romans, diese Aufgabe zu, und obwohl sie sich nicht gerade als talentierte Pädagogin erweist, entwickelt sie eine besonders enge Beziehung zu ihrem Mündel. Diese und die tiefe Verbundenheit mit ihrem vertrauten Leben sind zu groß, um alles hinter sich zu lassen: Als Jinny an der Reihe wäre, das Boot zu besteigen, beschließt sie, die Regeln zu brechen. Doch damit setzt sie eine Kette von Ereignissen in Gang, die unvorhersehbar sind…. Wie in anderen Robinsonaden ist auch in diesem Text die Isolation einer Insel Voraussetzung für die Fiktion einer bestimmten Gesellschaftsform. Doch hier ist sie nicht der Ausgangspunkt für gewalttätig eskalierende Konflikte wie im „Herrn der Fliegen“, sondern Allegorie für einen bestimmten Lebensabschnitt: die Kindheit. Laurel Snyder denkt diese als einen glücklichen, magischen Schonraum, dessen Schutzfunktion auf dem Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe und der Einhaltung von Regeln besteht – auch wenn sie den Kindern mitunter nicht rational verständlich sind. Das liest man auch als Elternteil ja nicht ungern. Und doch hat „Die Insel der Waisen“ gar nichts Belehrendes an sich, sondern erzählt bildreich ihre Geschichte, die auf das Innenleben der Protagonistin und ihren Übergang von der Kindheit zur Pubertät fokussiert. Hier stehen nicht die Konflikte innerhalb einer Gemeinschaft, sondern die inneren Kämpfe eines Individuums im Zentrum. Der Erzählton ist poetisch, kraftvoll, macht die oft widersprüchlichen Empfindungen das Mädchens glaubhaft nachvollziehbar: Denn wie das so sein kann in dieser Transit-Phase, ist Jinny ihren immer dunkler und wilder werdenden Gefühlen mehr und mehr ausgeliefert. Emotionalität toppt Rationalität. Und auf manche Fragen wird es lange keine Antworten geben …

Karin Haller