Martin Dolejš: Im Land der weißen Schokolade

ČSSR, 1979, eine Familie plant die Flucht in den Westen ...

Bamberg: Magellan 2021
256 S. | € 15,50



„Kurz nach meinem elften Geburtstag wurde ich darauf vorbereitet, ein Emigrant zu sein. Mein Vater zog im Wohnzimmer die Vorhänge zu und schaltete unser altes Radio an, mit dem Oma Vera schon im Zweiten Weltkrieg Feindsender gehört hatte. (…) „Was ist ein Emigrant?“ fragte ich. „Jemand der auswandert.“ „Wohin?“ „Egal wohin!“

Es ist das Jahr 1979 in der ČSSR, in Moskau ist Breschnew an der Macht, die samtene Revolution wird erst in zehn Jahren stattfinden. Die Welt in Kralupy an der Moldau, einer Kleinstadt nördlich von Prag, ist unter den Augen der Staatssicherheit eine recht eingeschränkte. Da wird sogar die Existenz von weißer Schokolade zur Lüge erklärt.
Nach eingehender Beratung, in der Italien, Schweden, ja sogar Amerika als Zieldestinationen der Flucht in Erwägung gezogen werden, entscheiden sich Martins Eltern für Westdeutschland. Der Junge ist durchaus einverstanden – bis er zu den Pionieren kommt, der Jugendorganisation der kommunistischen Partei. „Ich hatte mich darauf eingestellt, das System mit meiner proamerikanischen Ideologie und meinen Westjeans zu unterwandern. Und dann kam Ivanka!“ (…) „Für sie hätte ich das kommunistische Manifest auswendig gelernt. Mit Anhang.“ Erst als die verbissen linientreue Pionierin eine harmlose Party denunziert, entliebt sich der Ich-Erzähler zumindest soweit, dass er sich innerlich langsam vom Kommunismus und der Heimat verabschiedet.


dolejs

Die Flucht wird gut vorbereitet. Die Urlaubsreise nach Jugoslawien ist mithilfe eines bestochenen Parteifunktionärs genehmigt, Geld, Urkunden und Visaanträge sind im Unterboden des knallroten Fiat 600 versteckt. An der Grenze zu Ungarn hat Martin dann das dringende Bedürfnis, sich zu übergeben. „Ich war mir sicher, dass die Soldaten merken würden, dass wir abhauen wollten. Sie würden unser Auto so auseinandernehmen, dass es nur noch italienische Automechaniker in Turin wieder zusammenbauen könnten“. Doch alles geht gut, sie schaffen es unbehelligt nach Belgrad – wo ihre Visaanträge vom Türsteher der westdeutschen Botschaft in den Müll geworfen werden. Die Amerikaner geben ihnen jedoch einen Geheimtipp: die österreichische Botschaft. Dort bekommen sie problemlos ein Tagesvisum, und dann sind sie tatsächlich im Westen. An der Inntal-Raststätte wollen sie ihren Schleuser treffen, der sie nach Deutschland bringen soll. Doch Martin muss hilflos zusehen, wie seine Eltern von der österreichischen Polizei weggebracht werden …

Martin Dolejš, der als Drehbuchautor in München lebt, hat in seinem jugendliterarischen Debut „Im Land der weißen Schokolade“ offensichtlich auf seine eigene Geschichte zurückgegriffen. 1969 in der ČSSR geboren, flüchteten seine Eltern 1980 mit ihm über Jugoslawien und Österreich nach Westdeutschland. Sein Buch verbindet kleine und große Themen; Fragen, die sich Jugendliche auf der ganzen Welt angesichts der ersten Liebe stellen können, fügen sich ein in die facettenreiche Darstellung des damaligen Lebens im realen Sozialismus. Eine komische Passage reiht sich dabei an die nächste, zu Wortwitz und Situationskomik kommt die lautmalerische Transkription von deutschen oder englischen Wörtern hinzu, die - falsch ausgesprochen - nur mit viel Phantasie zu entschlüsseln sind.
Bei alledem wird die kindliche Perspektive niemals verlassen, was zum Humor beiträgt, ohne die Aussagekraft zu vermindern. Bilder sprechen für sich. So erinnern die Toilettenanlagen an der österreichischen Raststätte den Ich-Erzähler an einen Porzellanpalast, das Doppelhaus, in dem er in Baden-Württemberg landet, sieht aber trotzdem aus wie der heimische Plattenbau in Kralupy. Nur viel kleiner.

Die Szene an der Grenze, die der Ich-Erzähler ohne seine Eltern überquert, steht am Beginn des Buches; die Antwort auf die Frage, ob er seine Familie wiederfindet, ganz am Ende. Wo man schnell angelangt ist, denn die knapp 250 Seiten lesen sich wirklich vergnüglich. Unabhängig davon, ob man für den Begriff „Eiserner Vorhang“ altersbedingt im Glossar nachschlagen muss oder sich noch gut an Alois Mock beim Durchschneiden eines Grenzzauns erinnert.

Karin Haller